Angela Merkels Welt

© AP Kanzlerin Merkel kommt bei einem EU-Gipfel an.

 Es reicht ein guter Stehplatz in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs, am besten auf der Brücke, die Richtung Kanzleramt führt. So einen Platz kann jeder von Angela Merkel regierten Bürgern leicht ergattern, Gedränge gibt es nie. Mit etwas Geduld und Glück kann der Bürger sehen, wie die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Diensthubschrauber auf der Wiese hinter ihrem Büro landet. Und sofort kommt der Gedanke auf: Toll! Wer einmal Kanzler ist, kann mit minimalem Zeitaufwand kreuz und quer durchs Land fliegen und überall hinkommen, so schnell und bequem, wie es selbst den großen Wirtschaftsbossen oder dem Kaiser – also dem aus München – kaum möglich ist.

Eckart Lohse Folgen:

Doch Vorsicht! Als Kanzler(in) kommt man zwar schnell überall hin, solange nur eine Wiese da ist, auf der der Hubschrauber landen kann. Man kommt aber nicht an. Das ist nicht im Sinne von Beliebtheit gemeint, sondern von Erkenntnis. Wer einmal Kanzler ist, hat keine Chance mehr, als normaler Mensch normalen Menschen zu begegnen und durch eigenes Erleben herauszufinden, was diese denken. Jeder Besuch, gleich wo, jede Begegnung ist unter den Gesichtspunkten der Effizienz, der Sicherheit, der Medienwirkung lange vorbereitet und minutiös geplant. Kanzler zu sein bedeutet, den direkten und zwanglosen Kontakt mit dem regierten Volk zu verlieren.

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Oder kann sich jemand vorstellen, wie sich Angela Merkel beim Erwerb eines Autos unerkannt mit dem Verkäufer über die Nöte eines Gebrauchtwagenhändlers unterhält? Das gilt übrigens auch für die Ebene darunter. Da kann der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer noch so oft sagen, dass sein Koalitionspartner der Bürger sei: Was dieser denkt, erfährt Seehofer nicht mal beim Wurstkaufen auf Helgoland ungefiltert. Weil er erkannt wird.

Regierungshandeln an den Werten der Bürger ausrichten

Deswegen benutzen Kanzler und ihresgleichen gerne Hilfskonstruktionen, um herauszufinden, was diejenigen, die sie regieren und in der Regel auch nach der nächsten Wahl weiterhin regieren wollen, denken über die Qualität ihres Lebens in Deutschland. So schrieben CDU, CSU und SPD im Dezember 2013 in ihren Koalitionsvertrag: „Wir wollen unser Regierungshandeln stärker an den Werten und Zielen der Bürgerinnen und Bürger ausrichten und führen daher einen Dialog mit ihnen über ihr Verständnis von Lebensqualität durch.“ Besonders der Union, die damals schon wieder seit acht Jahren die Kanzlerin stellte, hätte man vorhalten können: Das fällt Euch ja früh ein!

© Bundesregierung Merkel über den Regierungsbericht „Gut leben in Deutschland“

Schwamm drüber, vielleicht fängt diesmal ja der späte Dialog den Wurm. Außerdem gehört es zur Ehrlichkeit zu sagen, dass Merkel auch vorher schon ähnliche Versuche unternommen hatte. Die Regierung jedenfalls beauftragte allerlei gesellschaftliche Organisationen wie Kirchen, Gewerkschaften und Volkshochschulen damit, für die Zeit von April bis Oktober vorigen Jahres Diskussionsforen mit Bürgern zu veranstalten. Mehr als 200 wurden es, bei etwa 50 kam ein Regierungsmitglied und gelegentlich eben auch die Kanzlerin hinzu. Obwohl noch nicht alle Kosten abgerechnet wurden, nennt ein Regierungssprecher schon mal die Summe von 3,5 Millionen Euro. Allerdings wurde keine Agentur beauftragt, sondern aus jedem Ministerium ein Beauftragter abgestellt und das Anbahnen der Veranstaltungen weitgehend den gesellschaftlichen Organisationen überlassen, was genaue Kostenberechnungen erschwert.

Flüchtlingskrise wird nicht als Extremsituation dargestellt

An dieser Stelle des Textes mag der Leser sich fragen, warum denn bisher noch nichts über das Ergebnis der Bemühungen gesagt wurde. Schließlich verabschiedete das Kabinett am Mittwoch das Resultat in Form eines fast 240 Seiten starken Berichts. Gleich zu Beginn steht, was den Deutschen am wichtigsten ist. Vor allem ist das der Frieden im eigenen Land und der Einsatz für solchen in der Welt.

Zudem wollen die Menschen „von ihrem eigenen Einkommen leben können und sich finanziell gut abgesichert fühlen“, sie wollen „mehr Wohnraum zu bezahlbaren Preisen“, „Solidarität und Hilfsbereitschaft“, ein „Gefühl von Sicherheit“. Es wurde also herausgefunden, dass die Deutschen nicht auf Angriffskriege und Mietwucher stehen. So etwas kann man ja gar nicht oft genug hören. Obwohl die Dialoge mit den Bürgern zwischen April und Oktober vorigen Jahres stattfanden, als die Zahl der nach Deutschland kommenden Asylsuchenden extrem anstieg, sind auch hier keine spektakulären Erkenntnisse gewonnen worden.

Es habe sich „ein sehr differenziertes Meinungsbild“ gezeigt, das von Gastfreundschaft und dem Wunsch nach Integration über Skepsis, wie gut sich Integrationsprozesse beeinflussen lassen, bis hin zur Sorge über die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft reiche. Noch Fragen?

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