Weihnachtsmarkt-Attacke – In diese drei Ansätze setzt die Polizei ihre Hoffnung

Im Zentrum Berlins rast ein Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt, zwölf Menschen sterben. Eine erste Spur erweist sich als falsch, nun muss die Polizei in andere Richtungen ermitteln.

Hinterher heißt es immer, der Horror riss die Menschen aus ihrem friedlichen Alltag, er traf sie jäh. Was das bedeutet, ist an diesem letzten Montag vor Heiligabend mit Händen zu greifen. Während ein Krankenwagen nach dem andern die Kantstraße hinunterrast in Richtung Gedächtniskirche, kommen einem von dort sehr unterschiedliche Menschen entgegen.

Die einen notversorgt mit Pflaster am Kopf oder das Handy am Ohr, hineinstotternd, was vor wenigen Minuten geschah. Andere laufen fröhlich, nichts ahnend, neben den Verletzten und Verstörten her, die Bierflasche oder die Einkaufstüte in der Hand. Das Berlin von gestern, von eben noch, läuft neben dem Berlin ab jetzt her, der Frieden neben dem Krieg.

Berlin hat es mit Weihnachten nicht so, mit dieser Geburt vor gut 2000 Jahren – mit Weihnachtsmärkten aber schon. Nur noch fünf Tage bis Tannenbaum, sacht gleitet die Stadt in den Glühweinmodus. Der Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz ist vielleicht nicht der schönste der Stadt, aber der symbolischste: rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gelegen, deren Ruine nicht wiederaufgebaut wurde – zum Zeichen gegen den Krieg.

Diesen deutschen Friedensmarkt hat sich der Attentäter ausgeguckt. Gegen 20.00 Uhr fährt ein riesiger schwarzer Sattelschlepper von Westen her auf die bunt erleuchtete Budenwelt zu, die eigenen Lichter hat der Fahrer gelöscht. An dieser Stelle mündet die breiteste Schneise des Marktes, sie soll als Rettungsgasse dienen – im Notfall.

Japanische Botschaft warnte vor Weihnachtsmärkten

Der ist jetzt da. Der schwarze Sattelschlepper rast in genau diese Rettungsgasse hinein. Sie wird zur Todesfalle. Es gab Warnungen. Japaner in Berlin etwa wurden von ihrer Botschaft aufgefordert, Weihnachtsmärkte nicht zu besuchen – zu gefährlich momentan. Ein Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt wurde in den vorangegangenen Jahren immer mal wieder versucht. Hätte man Betonblöcke setzen sollen? Die Frage kommt zu spät.

Der Laster rast Buden um, Menschen, Dekorationen. Er wütet sich bis zu 80 Meter weit in die Weihnachtsgasse hinein, dann bricht er links aus und kommt auf der Budapester Straße zum Stehen. Das Landeskriminalamt übernimmt. Spezialeinheiten der Berliner Polizei eilen zum Tatort. Zunächst ruft die Polizei intern eine „Amoklage“ aus, beordert aber für den Fall eines terroristischen Anschlags alle verfügbaren Polizisten zum Dienst.

Ein Ermittler sagt der „Welt“, man gehe eher nicht von einem Unfall aus: „Dafür war die Geschwindigkeit des Lkw zu hoch.“ Und die Zahl der Opfer ist es auch. Rettungskräfte zählen erst neun und am Ende ihres Einsatzes elf Tote sowie 44 Verletzte. Und noch einen Toten gibt es, den zwölften: In der Fahrerkabine des Lasters findet man dessen polnischen Fahrer, der Attentäter hat ihn in den Kopf geschossen.

Bundespräsident Gauck ist zurückhaltend

Um 20.56 Uhr ist ein mutmaßlicher Täter gefasst. Einer oder mehrere Zeugen seien dem Flüchtigen, der sich durch den nachtdunklen Tiergarten abgesetzt habe, gefolgt und hätten die Polizei per Handy auf dem Laufenden gehalten.

Der Mann wird bei der Siegessäule von der Besatzung eines Funkstreifenwagens festgenommen. Immer noch hält sich die Polizei bedeckt, immer noch rätselt Berlin über das Verbrechen – war es ein Terroranschlag oder eine Fahrt unter Alkohol?

Bundespräsident Gauck meldet sich zu Wort, keine drei Stunden nach dem „schrecklichen Geschehen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt“; auch er bewertet die Tat noch nicht: „Das ist ein schlimmer Abend für Berlin und unser Land.“ Auch Polens Präsident Andrzej Duda twittert zurückhaltend: „Tragödie in Berlin. Wer kann, möge für die Gesundheit der Verletzten und die Seelen derer beten, die gestorben sind.“

Merkwürdige Bewegungen auf dem Navi

Völlig mitgenommen äußert sich der Chef des erschossenen Lkw-Fahrers am späten Abend im polnischen Fernsehen. Ja, sagt Ariel Zurawski, es sei sein Fahrer, dann bricht er ab. „Bitte entschuldigen Sie, ich kann jetzt nicht sprechen.“ Der tote Fahrer ist sein Cousin.

„Ich befinde mich in einem schweren Schock“, erklärt Zurawski am anderen Morgen der „Welt“. „Wie kann man sich fühlen, wenn man die Bilder seines toten Cousins sieht, seine Verletzungen, die zeigen, dass er sich verteidigt hat?“ Der Frau des Ermordeten sei es emotional nicht möglich, den Körper ihres Mannes zu identifizieren. Der Spediteur sah erst auf der Facebook-Seite seiner Firma, dass etwas nicht stimmte. Noch am Montagmittag hatte er mit seinem Fahrer gesprochen.

Am Dienstag, bei der Untersuchung des Sattelschleppers, werden ungewöhnliche Bewegungen auf dessen Navi festgestellt. Das GPS zeigt, dass Ungewöhnliches vorgefallen sein muss: „Um 15.45 Uhr hat das Navi merkwürdige Bewegungen registriert. Jemand ist die ganze Zeit vor und zurück gefahren. Ein erfahrener Fahrer würde das nicht tun. Als hätte jemand gelernt, das Fahrzeug zu bedienen“, sagt Zurawski.

Der Lkw-Fahrer war einen Tag zu früh

Der polnische Fahrer Lukasz Robert U. war am Montagmorgen gegen neun Uhr im Berliner Stadtteil Wedding angekommen. Auf seinem Scania-Sattelschlepper hatte er Vierkantrohre aus Turin geladen. Bestimmt war das Material für Thyssen Krupp Schulte, Deutschlands führenden Werkstoffdienstleister. Der Berliner Standort des Unternehmens liegt an einem Kanal unweit des Westhafens, am Friedrich-Krause-Ufer 16-21.

„Tor 2“ steht dort auf einem weißen Schild und in kleiner Schrift: „Zufahrt für Lieferanten Stahl u. Metalle“. Dahinter liegt eine hohe Lagerhalle mit einem Backsteinbau davor – die Annahme. Der Fahrer hat sich dort gemeldet und wurde wieder weggeschickt. „Er war einen Tag zu früh“, sagt am Dienstagmittag ein dort tätiger Mitarbeiter. Er sagt auch, man habe gerade Besuch von der Polizei. Sie versucht, die Geschehnisse zu rekonstruieren. Offenbar hatte der polnische Fahrer am Montag seinen Sattelschlepper in der Nähe des Werksgeländes geparkt.

Was bekannt ist: Kurz vor 16 Uhr telefonierte er zum letzten Mal mit Zurawski. Der wird polnischen Medien später sagen, sein Cousin habe ihm erzählt, auf der Straße sehe er „nur Muslime“. Die plausibelste Erklärung dieser Beobachtung: Direkt beim Standort von Thyssen Krupp Schulte liegt die Berliner Ausländerbehörde. Dort soll der Fahrer, so erzählen es Anwohner, seinen Lkw geparkt haben, um seine Ware aus Turin am nächsten Tag abzuliefern.

Polnische Zeitung liefert neue Details

Was dann geschehen ist, darüber gibt es noch keine Erkenntnisse – nämlich in der Zeit zwischen 16.00 Uhr, also dem letzten Telefonat des Fahrers mit seinem Chef und Verwandten, und 20.00 Uhr, als sich der furchtbare Anschlag auf dem Breitscheidplatz ereignet und der Fahrer in seinem Lkw tot aufgefunden wird. Vermutlich erschossen, von jenem Täter, der skrupellos in die Menge gerast ist.

Am Dienstag berichtet die polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, die Leiche des Lkw-Fahrers weise viele Verletzungen auf – sei es von Schlägen, von Messerstichen oder vom Zusammenstoß mit Gegenständen, die der Sattelschlepper auf seiner Terrorfahrt gerammt hat.

Damit ist klar, der Fahrer hat mit dem Mann, der seinen Laster übernahm, um sein Leben gekämpft. Er hat diesen Kampf verloren. Der Attentäter hat freie Fahrt. Zwischen dem Firmengelände von Thyssen Krupp Schulte und dem Weihnachtsmarkt liegen jedenfalls nur jene rund fünf Kilometer, eine Distanz, die sich auch mit einem Laster in einer Viertelstunde bewältigen lässt.

Das SEK stürmt eine Flüchtlingsunterkunft

Nach wie vor konzentrieren sich die Ermittlungen auf den gefassten Pakistaner. Um vier Uhr am Dienstagmorgen stürmt das SEK Berlin einen Hangar auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof – dort leben Flüchtlinge, dorthin weist die Spur des mutmaßlichen Attentäters. Hier hat er in einer sogenannten Wabe mit vier Doppelstockbetten mit insgesamt sechs Personen gelebt. Sein Handy wird beschlagnahmt und nun ausgewertet.

Kurz nach 8.00 Uhr ist dessen Name heraus: Navid B. Das Geburtsdatum in seinen Papieren deutet mit dem Zaunpfahl auf Passfälschung hin: „1.1.1993“. Der Mann soll im pakistanischen Turbat geboren worden und am 11. Februar 2016 über Passau nach Deutschland eingereist sein. Seit dem 2. Juni 2016 soll er eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland besitzen.

Noch in der Nacht hat das Bundeskriminalamt (BKA) in einem achtseitigen Lagebericht festgestellt, man gehe „nach aktuellem Kenntnisstand“ von einem „terroristischen Anschlag“ in Berlin aus, auch wenn sich bis dato noch keine terroristische Organisation zu dem Anschlag bekannt habe. In den einschlägigen islamistischen Foren und Internetmedien seien aber die Presseberichte aus Deutschland über den Anschlag gepostet, weitergeleitet und „überwiegend positiv“ kommentiert worden.

Plötzlich ist sich die Polizei nicht mehr sicher

Um 9.00 Uhr sprechen die Innenminister der Länder mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Vor allem der CDU-Politiker und der neue Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) sollen Antworten liefern. Sie tragen das Wenige vor, das sicher scheint: Sachverhalt, Reaktionen der Islamisten-Szene, Gefährdungsbewertung – und die eingeleiteten Maßnahmen. Es geht auch um den festgenommenen Terrorverdächtigen. Dabei macht de Maizière laut Teilnehmern klar, dass man sich beim möglichen Täter nicht zu 100 Prozent sicher sei.

Bei einem Thema ist sich die Ministerrunde, ein bunter politischer Haufen von CSU bis Rot-Rot-Grün, einig: Weihnachtsmärkte abzusagen, wäre die falsche Antwort. Stattdessen sollen mehr Polizisten patrouillieren. De Maizière sagt noch etwas: Wenn Weihnachtsmärkte nichts anderes sind als eine Ansammlung von bunten und lauten Fahrgeschäften, dann sollte man sie vielleicht doch schließen. Angesichts der Toten sei das angebracht. Dann übernimmt der Generalbundesanwalt den Fall.

Zugleich sickern Zweifel durch, dass der festgenommene Pakistaner der Täter ist. Sie verstärken sich zur Beinahe-Gewissheit: Wir haben den Falschen. Der echte Täter läuft frei herum – vermutlich noch immer bewaffnet. Denn die Polizei ist die Fluchtwege abgelaufen – aber die Waffe, mit der der Mann, der den Sattelschlepper in seine Gewalt brachte, dessen polnischen Fahrer erschoss, hat sie nicht gefunden.

Sind es gar mehrere Täter?

Ein Täter, der wohl der Täter nicht ist. Ein wirklicher Täter, der herumläuft, bewaffnet und schlimmer noch: absolut unbekannt. Oder sind es gar mehrere, was selbst das BKA nicht ausschließen will? Alles, was getan wurde, umsonst? Alles auf Anfang? Die Arbeit der Polizei wirft Fragen auf. Offenbar hat man sich zu schnell auf nur eine Spur festgelegt: den Pakistaner aus dem Tiergarten. Doch, so erklärten die ermittelten Behörden am Dienstag, wurde der Verdächtige nicht lückenlos vom Lkw bis zur Verhaftung verfolgt. Man verlor ihn aus den Augen.

Wen also nahm man fest? Und so sagte der Berliner Polizeipräsident Klaus Kandt rund 19 Stunden nach der Tat, man müsse nun schauen, „dass wir eine genaue Personenbeschreibung bekommen“. Die hatte man offenbar immer noch nicht parat. Der Weihnachtsmarkt wird nicht per Video überwacht, so dass keine Filmaufnahmen von der Tat oder der mutmaßlichen Flucht des Täters gibt.

In dieser Lage setzt die Polizei ihre Hoffnung in drei Ansätze: Das Obduktionsergebnis soll Klarheit über den Todeszeitpunkt des entführten Fahrers bringen, die Auswertung der GPS-Daten den Hergang der Terrorfahrt klären. Und vom Abgleich von DNA-Spuren des Attentäters mit Datenbanken erhoffen sich die Ermittler den glücklichen Treffer, der zur Aufklärung des Falles gehört. Das Problem ist der Tatort: Die Fahrerkabine ist vom Aufprall demoliert. Haare und Blut überall, völlig verdreckt.

Der Tatverdächtige wird freigelassen

Was den Ermittlern verzweifelt fehlt, ist „eine brauchbare geeignete Fahndungsbeschreibung“. Die wäre nötig, sagt Kandt, um den Flüchtigen zu finden, dessen man sich sicher glaubte und den man nun wieder sucht. Am Dienstagabend wird der festgenommene Pakistaner schließlich freigelassen.

Immerhin konnten die BKA-Fahnder die Route des Lastwagens auswerten. Der Fahrer nahm nicht den kürzesten Weg zum Breitscheidplatz. Er war etwa eine halbe Stunde in Berlin unterwegs – doppelt so lange wie nötig. Die Ermittler glauben, dass der Täter ein ungeübter Lkw-Fahrer war und sich vor dem Anschlag die Zeit nahm, das Fahrzeug zu testen. Er fuhr um 19.34 los, der erste Notruf ging um 20.02 in Berlin ein. Aber wer saß am Steuer? Wer ermordete zwölf Menschen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt?

Am Dienstagabend bekennt sich die Terrormiliz IS zu dem Anschlag. Doch so viel weiteres ist unklarer denn je. Es ist noch größtenteils ein Tappen im Dunkel.

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