Trump und die Nuklear-Codes: „Sein Finger auf dem Atomkoffer macht mir Angst“


Zur Person
Dr. Bruce Blair, Jahrgang 1947, ist Sicherheitsexperte und Fachmann für Nuklearfragen an der Universität Princeton. In den Siebzigerjahren kontrollierte Blair für die US-Armee das Prozedere für den möglichen Abschuss von Atomwaffen. Sein Job war es, den Weg von Befehl des Präsidenten bis zum Start der Raketen virtuell durchzuspielen und zu gewährleisten, dass im Ernstfall sämtliche Prozesse reibungslos verlaufen. Seit seiner Arbeit für die US-Armee gehört Blair zu den führenden nuklearpolitischen Kritikern in den USA. Im Wahlkampf trat er in einem Video von Hillary Clinton auf und warnte eindringlich vor der Wahl Donald Trumps.

Ab 18 Uhr deutscher Zeit ist Donald Trump US-Präsident: Was macht der mächtigste Mann der Welt dann mit seiner Macht? Wie geht er mit dem sogenannten Atomkoffer um? Mit einer einzigen Entscheidung könnte Trump einen Nuklearkrieg entfachen.

Seine Aussagen dazu sind wie meistens nicht eindeutig. So sagte er im April vergangenen Jahres im Wahlkampf zwar, es sei ein „Horror, Atomwaffen einzusetzen“. Er werde der Letzte sein, der dies tue. Doch ergänzte er dann auch: „Aber ich werde es niemals ausschließen.“

Der Nuklearexperte Bruce Blair äußert sich im Interview über Trumps Atom-Allmacht:

SPIEGEL ONLINE: Mr. Blair, Donald Trump wird am Freitag vereidigt, kurz vorher erhält er wie alle neuen Präsidenten das hochgeheime Briefing zu den Nuklear-Codes. Was wissen wir über dieses Briefing?

Bruce Blair: Mehrere Dinge. Wir wissen zum Beispiel, dass ihm in der Sitzung der sogenannte Nuklearkoffer präsentiert wird. Das ist eine Art mobile Kommandozentrale, die ein Präsident im Fall einer Krise nutzen kann.

SPIEGEL ONLINE: Was befindet sich in dem Koffer?

Blair: Der Koffer enthält Unterlagen zu Amerikas geheimen Atomwaffenstandorten. Auch das Schwarze Buch mit festen Angriffszielen und verschiedenen Kriegsoptionen, aus denen ein Präsident im Notfall wählen kann, befindet sich darin. Neben dem Koffer werden dem neuen Oberkommandierenden in der Regel auch seine persönlichen Nuklear-Codes überreicht. Und jemand, der sich damit gut auskennt, erklärt ihm in Grundzügen, wie er sie nutzt. Die Codes sind äußerst wichtig. Will er den Einsatz von Atomwaffen befehlen, muss er sich gegenüber dem Pentagon vorher zweifelsfrei identifizieren. Dafür sind sie gedacht.

SPIEGEL ONLINE: Am Morgen der Inauguration geht der neue Präsident also erst einmal die Einzelheiten eines Atomkriegs durch?

Blair: In der Regel nicht sehr intensiv. Kurz vor der Inauguration dürften die meisten Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren. Eine wirklich detaillierte Erklärung über die unterschiedlichen Optionen erfolgt schon in der Übergangsphase. Im Nuklear-Briefing geht es eher um eine grobe Darstellung der Möglichkeiten. Jimmy Carter war bei seinem Amtsantritt zum Beispiel genervt davon, dass die Broschüren im Koffer aus seiner Sicht viel zu lang waren. Er hat deshalb eine Ein-Seiten-Version in Auftrag gegeben, die einem Comic ähnelt. Option eins, Option zwei, Option drei. So in der Art. Diese Version gibt es meines Wissens immer noch.

SPIEGEL ONLINE: Im Wahlkampf haben Sie betont, welch große Angst Sie davor haben, dass Donald Trump ins Weiße Haus einzieht. Sind Sie seit dessen Wahlsieg etwas weniger besorgt?

Blair: Nein. Trumps Finger auf dem Atomkoffer macht mir Angst. Ich habe keinerlei Vertrauen in Trumps Urteilskraft, was Krieg und Frieden angeht. Er ist impulsiv. Er ist aggressiv, schlecht oder falsch informiert. Er weiß praktisch nichts über Atomwaffen oder internationale Beziehungen. Er ist ein Hitzkopf. Er denkt nicht. Er will nicht lernen. Und ganz wichtig: Er hat gezeigt, dass er die Welt in Gewinner und Verlierer einteilt. Ganz ehrlich: Ich lebe in Angst. Ich fürchte, irgendwann trifft Trump eine schlechte Entscheidung, was Atomwaffen angeht.

SPIEGEL ONLINE: Aber mal ehrlich: Ein Knopfdruck und schon fliegen die Atomwaffen in Richtung feindlicher Ziele – wie viel von dieser Vorstellung ist Science Fiction?

Blair: Nicht viel, das ist ja das Problem. In der Nuklearfrage gibt es ein klar geregeltes Prozedere. Es ist dazu entworfen worden, im Zweifel schnell und effizient reagieren zu können. Es ist unglaublich: Der Präsident hat eine Entscheidungsmacht, die die Zivilisation beenden kann. Vollkommen ohne Hürden.

SPIEGEL ONLINE: Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Blair: Es gibt zum Beispiel das Not-Szenario des Telefonanrufs mitten in der Nacht, in dem ein Präsident von seinem Sicherheitsberater über einen drohenden Angriff auf die USA informiert wird. Er hat dann maximal sechs Minuten Zeit zu entscheiden, wie er reagiert. Das Protokoll sieht vor, dass der Präsident mit seinen engsten Beratern konferieren muss sowie dem leitenden Beamten des Kommandozentrums im Pentagon, dem sogenannten „war room“.

Sollte der Präsident den Einsatz befehlen, muss der Pentagon-Beamte, der die Atomwaffenstandorte über die Entscheidung informiert, zunächst zweifelsfrei klären, ob es sich auch wirklich um den Präsidenten handelt. Hier kommen die Codes zum Einsatz. Nach allem, was man weiß, geht das nach dem in Militärkreisen üblichen „challenge response“ Verfahren. Der Pentagon-Beamte liest einen Teil der Zeichenfolge vor, der Präsident muss das passende Äquivalent liefern. Dann geht es los.

SPIEGEL ONLINE: Ein nächtlicher Anruf ist noch nicht sehr häufig vorgekommen.

Blair: Es gibt ein zweites Szenario: Das einer längeren Konfrontation mit einem Staat oder einem Feind, in dem nicht ganz so hektisch entschieden werden muss und der Präsident womöglich über Tage oder Wochen hinweg abwägt. Das mögen unterschiedliche Varianten sein. Aber der Punkt ist: Wenn eine Entscheidung getroffen ist, geht alles sehr schnell. Und die Angriffsziele im Nuklearkoffer sind fest voreingestellt.

SPIEGEL ONLINE: Wo liegen die Ziele?

Blair: Viele Details sind geheim. Aber im Groben ist bekannt, dass allein 900 Ziele in Russland gespeichert sind, davon 100 in Moskau. 500 gibt es in China, 60 in Nordkorea, 50 in Iran. Was er angreifen will, kann der Präsident allein entscheiden. Ein Ziel, oder einfach alle Ziele gleichzeitig. Es gibt niemanden, der seine Entscheidung verhindern kann. Niemanden, der ein Veto einlegen kann. Übrigens auch nicht der Verteidigungsminister, wie manche glauben.

Gibt der Präsident sein Okay, geht alles seinen Gang. Die Kommandozentrale schickt einen kurzen Startbefehl, der praktisch zeitgleich an den jeweiligen Raketenstandorten ankommt. Dann werden die Waffen innerhalb von einer Minute startklar gemacht. Das war jahrelang mein Job.

SPIEGEL ONLINE: Hoffentlich nur in der Theorie.

Blair: Ja, klar. Wir haben in dem Atomwaffenstandort, in dem ich gearbeitet habe, natürlich immer nur den Ernstfall geübt. Jeden Tag. Hunderte Mal. Immer das gleiche Prozedere: Befehl. Startanweisung aus dem Pentagon. Wir öffnen den Safe. Wir holen unsere versiegelten Codes raus und vergleichen sie mit jenen Codes, die uns übermittelt wurden. Wenn die übereinstimmen, starten wir auf dem Simulator die Atomrakete. Alles innerhalb von einer Minute. Das ist der Standard.

SPIEGEL ONLINE: Wie viele amerikanische Atomraketen sind aktuell einsetzbar?

Blair: Unterirdisch gibt es zurzeit 430 Atomraketen, die jederzeit startklar sind. Zudem schwimmen im Pazifik und im Atlantik noch einige U-Boote mit rund dreihundert Raketen. Vom Befehl bis zum Abschuss würde es bei denen etwas länger dauern – rund 15 Minuten.

SPIEGEL ONLINE: Hat jede dieser Raketen ein Ziel?

Blair: Nein, jede Rakete hat viele unterschiedliche Ziele in ihrem Computer. Aber Teil des Ein-Minuten-Prozedere ist es, die Rakete auf die richtige Angriffsoption einzustellen. Je nach Option fliegt die Rakete dann ein entsprechendes Ziel an. Es gibt drei unterschiedliche Arten von Zielen: Die Raketen könnten zur Zerstörung feindlicher Nuklearwaffen verwendet werden, zur Zerstörung von Gebäuden der politischen Führung eines Landes oder der Waffenindustrie. Das muss man sich wie eine Menu-Option vorstellen. Ziel, Land, los geht’s.

SPIEGEL ONLINE: Immerhin: Ein Hiroshima-Szenario, bei dem Hunderttausende Menschen sterben, kann der Präsident offenbar nicht einfach befehlen.

Blair: Nicht direkt. Aber natürlich sind gerade die sensiblen Gebäude oft in dicht bewohnten Gebieten. In Städten. Und denkbar ist auch, dass der Präsident eine Variante auswählt, die nicht voreingestellt ist. Seine persönliche Variante sozusagen. Nur braucht es dafür einen langen Plan, der ohne eine intensive Diskussion auf der höchsten politischen Ebene nicht vorstellbar ist.

SPIEGEL ONLINE: Trump hat sich mehrfach kritisch zu Atomwaffen geäußert, vor vielen Jahren sogar einmal gesagt, er sähe gerne einen internationalen Abrüstungsvertrag. Kann es sein, dass er uns alle überrascht?

Blair: Ich glaube nicht daran. Wir wissen doch fast nie, ob er Dinge ernst meint. Warum sollte das in Fragen der Atomwaffen anders sein? Sein gesamtes Politikverständnis kann auf diesem Feld verheerende Folgen haben. Er hält nichts von Diplomatie. Er eskaliert Situationen gerne. Natürlich: Ich hoffe auch, dass er sein Versprechen wahr macht und auf allen Feldern gut verhandelt. Einen ganz großen Deal abschließt, der auch Abrüstung, Raketenabwehr einbezieht. Aber ich glaube, dass sein Temperament für die sensible Frage der Atomwaffen vollkommen ungeeignet ist.

SPIEGEL ONLINE: Das Amt des Präsidenten macht demütig, es verändert einen Politiker, heißt es.

Blair: Ja, und wir haben das in der Geschichte gesehen. Ronald Reagan hat nach seinem Amtsantritt sein Militär angewiesen, sich so aufzustellen, dass es jederzeit bereit wäre, in einem Atomkrieg zu kämpfen. Und ihn zu gewinnen. Irgendwann hat er eingesehen, dass das eine absurde Grundannahme war und die Sowjetunion das sehr ernst genommen hat. Zu ernst für seinen Geschmack. Reagan hat dann seine Politik geändert. Das Problem bei Trump ist: Gäbe es ein Wettrüsten, würde er es gewinnen wollen.

SPIEGEL ONLINE: Sind die Nuklear-Codes eigentlich immer im Atomkoffer? Oder kann jeder Präsident selbst entscheiden, wo er sie aufbewahrt?

Blair: Es gibt Präsidenten, die die Codes im Koffer aufbewahren. Ich glaube auch, dass das die sicherste Variante ist. Der Koffer wird stets von einem Militärbeamten bewacht, der den Präsidenten rund um die Uhr begleitet. Da kann eigentlich nichts verloren gehen. Aber jeder Präsident hat die Möglichkeit, sie auch am eigenen Körper zu tragen. Das kann ein Risiko sein. Viele frühere Präsidenten haben die Codes verlegt.

SPIEGEL ONLINE: Weiß man, wer das war?

Blair: Der ehemalige General Hugh Shelton hat in seinen Memoiren offenbart, dass Bill Clinton die Codes in seinem Portemonnaie getragen habe, da wo die Kreditkarten waren. Als die Codes dann – wie üblich – nach ein paar Monaten ausgetauscht werden sollten, waren sie weg. Unter Carter sind die Codes mal in der Wäscherei des Weißen Hauses gelandet, weil er sie in seinem Anzug vergessen hatte. Und als Ronald Reagan angeschossen wurde, nahm man ihm die Jacke ab, in der sich die Codes befanden. Sie landeten dann in einer Plastiktüte, von der erst niemand richtig wusste, wem sie gehörte. Es gibt verrückte Geschichten.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*