Das Bild Deutschlands ist in der Türkei im Wandel

© AFP Anti-Deutschland-Proteste: Der Bundestag erklärte 2016 Verbrechen an Armeniern zum Völkermord.

Er ist immer noch da. In einem der großen Säle des deutschen Generalkonsulats in Istanbul, einem Prachtbau von gründerzeitlicher Unbescheidenheit, der ursprünglich die Botschaft des deutschen Kaiserreiches bei den Osmanen beherbergte, blickt Wilhelm II. auf die Besucher herab. Lebensgroß in Öl, die verkrüppelte Linke in einem Lederhandschuh versteckt auf den Knauf eines Krummschwerts stützend, trägt der Hohenzoller die Uniform eines türkischen Paschas. In Istanbul wird oft eine Anekdote zur Geschichte dieses im Kriegsjahr 1916 entstandenen Gemäldes erzählt: Demnach soll ein bundesrepublikanischer Generalkonsul irgendwann einmal angeordnet haben, das Porträt des kriegslüsternen Oberpreußen abzuhängen, da es nicht mehr in die Zeit passe. Doch als die türkischen Gäste auf dem nächsten diplomatischen Empfang das Fehlen des Bildes bemerkten, protestierten sie: „Wir wollen den Kaiser zurück!“

Michael Martens Folgen:

Die Geschichte ist möglicherweise nicht wahr, gewiss aber ist sie bezeichnend für die Art, in der die deutsch-türkischen Beziehungen bis vor einigen Dekaden oft definiert wurden. Ältere deutsche Türkei-Kenner, denen das Land noch aus den sechziger oder frühen siebziger Jahren in Erinnerung ist, berichten oft davon, wie sie auf die „Waffenbrüderschaft“ aus der Zeit des Ersten Weltkriegs angesprochen worden seien. Bevor in den sechziger Jahren türkische „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen und ein weniger martialisches Narrativ die deutsch-türkische Erzählung zu überlagern begann, war die Erinnerung an den gemeinsam verlorenen Kampf von 1914 bis 1918 eine Konstante in der gegenseitigen Bespiegelung.

Mehr zum Thema

Für die meisten heutigen Türken spielt das freilich längst keine Rolle mehr. Ihnen ist das großpreußische Pickelhaubenreich genauso fern und fremd wie jungen Deutschen. Sie haben eine andere Sicht auf das Land. „Die“ türkische Sicht auf Deutschland gibt es allerdings ohnehin nicht, denn die Perspektiven sind so vielfältig wie die Türkei selbst. Aus innenpolitischen Gründen versuchen Tayyip Erdogan und seine Regierungspartei AKP in diesen Tagen, da sie von einer rhetorischen und emotionalen Eskalation nur profitieren können, die Lage weiter anzuheizen. Die Faschismuskeule wurde nicht zufällig ausgegraben, natürlich weiß man in Ankara, dass Reizworte aus dem zeitlichen Umfeld von 1933 bis 1945 zuverlässig deutsche Empörung generieren – und genau das ist derzeit offenbar erwünscht.

Wenn sich in der Türkei hingegen viele Menschen kaum über die absurden Vergleiche zwischen dem Deutschland Adolf Hitlers und dem Deutschland Angela Merkels empören, hat das auch mit einem anderen Umstand zu tun: In der Türkei wird, wie fast überall im Ausland (und zum Teil ja auch in Deutschland), nur selten zwischen Faschismus und Nationalsozialismus differenziert. Vielen Türken sind die Unterschiede nicht einmal bewusst. „Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts ist in der Türkei kaum bekannt. Trotz der vielen Türken in Deutschland kann man die Deutschland-Kenner in der Türkei an einer Hand abzählen“, sagt der in Istanbul lebende Politikwissenschaftler Ekrem Eddy Güzeldere dieser Zeitung. „Die türkischen Kenntnisse über die NS-Zeit sind oberflächlich. Deshalb fällt in der Türkei die Absurdität der Gleichsetzung Nazideutschlands mit dem Deutschland von heute kaum auf“, so Güzeldere. Außerdem dürfe die überzogene regierungsamtliche Rhetorik aus Ankara nicht den Blick darauf verstellen, dass die Türken mehrheitlich einen positiven Blick auf Deutschland hätten: „Die starke Wirtschaft, verlässliche Markenprodukte, Werte wie Disziplin und Pünktlichkeit, in anderen Kreisen aber auch Umweltschutz genießen großes Ansehen. Das gilt übrigens auch für die Regierungspartei AKP, die gern Großaufträge an deutsche Automobilhersteller vergibt.“

1 | 2 Nächste Seite   |  Artikel auf einer Seite

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*