Aufklärung! Freiheit! Europa!

Wenn Europa ein Stein vom Herzen fallen könnte, dann wäre das Becken des Mittelmeers vermutlich seit Sonntagabend, 20.00 Uhr, weitgehend geleert. In diesem Moment zeigten die Hochrechnungen im französischen Fernsehen, dass Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahl mit rund 66 Prozent der Stimmen gewonnen hatte. Seine Gegnerin Marine Le Pen kam auf rund 34 Prozent.

Das Gespenst einer rechtsextremen französischen Präsidentin, die aus dem Euro austreten will, ist damit für zumindest fünf Jahre verscheucht. Der im Falle einer Wahl Le Pens drohende Zusammenbruch einer konstruktiven deutsch-französischen Beziehung – und damit das Ende von Europa –, das ist vorerst abgewendet.

Man kann nicht deutlich genug unterstreichen, wie knapp die europäische Nachkriegsordnung elf Monate nach der Brexit-Entscheidung der Briten an diesem Maisonntag am Kollaps vorbeigeschlittert ist.

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Emmanuel Macron ist eine erstaunliche Leistung gelungen, man übertreibt vermutlich nicht, wenn man behauptet, er hat erfolgreich eine Revolution angeführt – so der Titel seines programmatischen Buches.

Ein 39-Jähriger, dessen Namen vor zwei Jahren in Europa niemand und in Frankreich kaum jemand kannte, hat es aus dem Stand geschafft, eine politische Bewegung aus der Taufe zu heben, die inzwischen mehr Mitglieder hat als die beiden etablierten politischen Parteien in Frankreich zusammen.

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Quasi im Vorbeigehen hat er die Konservativen und die Sozialisten in Frankreich zu politischen Randfiguren gemacht. Sein Sieg – und die Tatsache, dass neben ihm Marine Le Pen in die Stichwahl gelangte –, das ist ein deutlicher Beleg dafür, wie ausgelaugt die beiden großen politischen Lager in Frankreich heute personell und programmatisch sind.

Auf dem Land ist Macron verhasst

Macron ist dabei etwas gelungen, was in Frankreich seit der Wahl François Mitterrands 1981 niemandem mehr gelungen ist: Er hat es geschafft, mit seiner Bewegung En Marche Aufbruchstimmung zu verbreiten, das Gefühl, dass sich in Frankreich etwas bewegen muss, damit diese große Nation endlich wieder optimistisch in die Zukunft blickt und eine wirtschaftliche Wachstumsperspektive erhält, die ihrem Potenzial angemessen ist.

Macron, und das ist ihm anzurechnen, hat dies erreicht, ohne im Wahlkampf simple Lösungen für komplexe Probleme zu versprechen. Er hat ausgesprochen, dass Frankreich sich ändern muss, um zu bleiben, wie es ist. Die Notwendigkeit zur Veränderung haben offenbar genügend Franzosen erkannt, um das Wagnis einzugehen, einen 39-Jährigen, der noch nie für ein Amt gewählt wurde, in den Élysée-Palast zu schicken.

Und doch ist es keine landesweite Welle der Euphorie, die Macron in dieses schwere Amt trug. Macron hat seine Fan-Basis in den großen Städten, aber auf dem Land, in der „France profonde“ ist er nahezu verhasst. Man sollte zudem nicht übersehen, dass er diese Wahl auch nur deshalb gewinnen konnte, weil die Franzosen ihr etabliertes politisches Führungspersonal ein für alle Mal loswerden wollten.

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Mit dem Beginn der Vorwahlen im vergangenen Jahr verabschiedete sich ein politischer Hochkaräter nach dem anderen aus dem Feld der Kandidaten: Hollande, Valls, Sarkozy, Juppé – sie alle scheiterten, weil schon ihre eigenen Parteifreunde sie nicht mehr ertragen konnten.

François Fillon, ein Mann, der noch im Januar wie der sichere nächste französische Präsident aussah und in den Umfragen weit vor Macron lag, entpuppte sich schließlich als scheinheiliger Tartuffe, der im Affärensumpf unterging und eine Wahlkampagne gegen die Wand fuhr, welche die Konservativen schon gewonnen zu haben glaubten.

Mit dem Ressentiment der Konservativen, von denen sich viele um den „verdienten“ Sieg betrogen fühlen und die den neuen Präsidenten für den „Erben Hollandes“ halten, wird Macron nun ebenso umgehen müssen wie mit dem Soupçon der Linken, die in ihm bestenfalls einen kaltherzigen Neoliberalen und schlimmstenfalls eine Marionette der Finanzwelt sehen.

Macron muss sich jetzt positionieren

Der überraschende Erfolg des linkspopulistischen Volkstribuns Jean-Luc Mélenchon in der ersten Wahlrunde ist ein deutliches Indiz dafür, wie scharf der Widerstand sein wird, den Macron von links gegen seine Reformbestrebungen erwarten darf. Die politische Landschaft in Frankreich wird sich nach dieser Wahl vollkommen neu sortieren.

Die Parlamentswahl, die Mitte Juni stattfindet, wird darüber entscheiden, ob es Macron gelingt, seine Bewegung in eine schlagkräftige politische Mehrheitspartei zu verwandeln. Erst dann wird man abmessen können, wie viele der 66 Prozent an diesem Sonntag wirklich „für“ Macron gestimmt haben und nicht nur gegen Le Pen.

Macron, der es im Wahlkampf durchaus geschickt geschafft hat, sich nicht allzu klar zu positionieren und fast jede kritische Nachfrage mit einem Sowohl-als-auch zu beantworten, wird bis dahin stärker Farbe bekennen müssen.

2022 könnte es noch enger werden

Schon die Ernennung seines Premierministers dürfte ein erstes Indiz dafür sein, in welche Richtung die Reise geht. Dem neuen französischen Präsidenten, darüber sollte man sich keine Illusionen machen, wird heftiger Widerstand von rechts und von links entgegenschlagen.

Frankreich, das hat dieser beunruhigend enthemmte Wahlkampf gezeigt, ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Bei Marine Le Pens Wählern werden Aufrufe zur „Einigkeit“ ebenso ungehört verhallen wie bei denen Jean-Luc Mélenchons und einem Großteil der Fillon-Wähler.

Dennoch ist dieser Abend ein erfreulicher, für Frankreich wie für Europa, denn es ist das Frankreich der Aufklärung, das Frankreich der Freiheit, das republikanische und europäische Frankreich, das mit Emmanuel Macron noch einmal gesiegt hat. Macron hat jetzt fünf Jahre Zeit. Wenn er keinen Erfolg hat, wird Europa im Mai 2022 noch deutlich stärker zittern als an diesem Sonntag.

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