Analyse: Labour mobilisiert Junge – und verhindert Mays Durchmarsch

Foto: AFP

Von TIMO STEPPAT

9. Juni 2017 · Corbyns überraschender Erfolg wird getragen von jungen Wählern. Sie sind, anders als beim Brexit, wählen gegangen. Aber was sind die Gründe für die Niederlage Theresa Mays? Die Wahlanalyse.

Wenn eine Wahl näher rückt, steigt der Anteil von Menschen, die wissen, was sie wählen wollen. So ist es normalerweise. Und als die britische Premierministerin Theresa May im April die Neuwahl des Unterhauses für den 8. Juni verkündete, glaubte sie eine mehr oder weniger überzeugte Anhängerschaft ihrer Konservativen Partei hinter sich. Im Vergleich: Während unter den Anhängern der sozialdemokratischen Labour-Partei fast 40 Prozent noch unentschlossen waren, was ihre Stimmabgabe betrifft, war es unter den Tory-Anhängern nur ein Fünftel. Der Anteil der unentschlossenen Wähler stieg aber in den Wochen darauf kontinuierlich an, während er bei Labour immer weiter sank. Während Corbyn also mobilisierte, verunsicherte May die eigenen Leute.

Das spiegelt die Entwicklung der Stimmungen in Großbritannien recht präzise wider. Im April schien Theresa May noch vor einem Durchmarsch und einem deutlichen Ausbau der absoluten Tory-Mehrheit zu stehen. Ihr Ziel war es, damit auch die Position in den Brexit-Verhandlungen zu verbessern. Jeremy Corbyn, Chef der Labour-Partei, dagegen schien weit abgeschlagen. Eine historische Niederlage der Sozialdemokraten stand nach den damaligen Umfragewerten verschiedener Institute bevor. Auf die Frage, wer Regierungschef werden sollte, war May im April noch einer Umfrage des Instituts Kantar zufolge mit 61 Prozent unangefochten, Corbyn kam nur auf 23 Prozent. Ihr Wert sank auf 47 Prozent, seine Beliebtheit stieg bis zum 8. Juni, dem Tag der Wahl, auf 36 Prozent. Neun Prozent trennten sie. Ein Amtsinhaberbonus, der sonst weitaus höher ausfällt, ist das nicht mehr. Corbyn ist nicht Sieger, er ist ein Zugewinner. Und May hat ein achtbares Ergebnis erzielt – aber sie hat deutlich verloren.

Der Erfolg Jeremy Corbyns beruht vor allem auf dem Zuspruch junger Wähler. Wie aus den Erhebungen von Kantar aus den zurückliegenden Wochen hervorgeht, stieg sein Zuspruch besonders in der Gruppe der unter 30-jährigen Wähler kontinuierlich weiter an. In einer Umfrage des Institut Ipsos Mori zeigt sich, dass unter den 18 bis 34 Jahre alten Wählern nahezu die Hälfte (49 Prozent) für Labour stimmten, nur ein Viertel für die Konservativen. Das umgekehrte Bild zeigt sich bei den Wählern ab 55: Hier wollten 56 Prozent für die Konservativen stimmen, nur 27 Prozent für Labour. Auch in den Umfragen von YouGov zeigen sich ähnliche Trends: Besonders stark punkten kann Jeremy Corbyn bei den 18- bis 22-Jährigen, Theresa May bei Wählern im Rentenalter (über 65-Jährige sollen danach mit über 50 Prozent Tories gewählt haben). Bei der Direktwahlfrage punktet May mit absoluter Mehrheit bei allen Wählern der Altersgruppen ab 40, unter Rentnern sind es über 60 Prozent.

Die höhere Wahlbeteiligung deutet darauf hin, dass es Labour gelungen ist, besonders die Jungen an die Urnen zu bringen; beim Brexit war es eben jene Gruppe, die nicht abgestimmt hat und später besonders lautstark über das Ergebnis geklagt hat.

Aus der YouGov-Umfrage, die kurz vor der Wahl erhoben wurde, geht hervor, welche Themen die Wähler besonders beeinflusst haben. Allgemein sind es Brexit, Verteidigung und Sicherheit sowie die Themenfelder Gesundheit und Immigration. Unter den Tory-Anhängern ist der Austritt Großbritanniens aus der EU mit 70 Prozent das entscheidende Thema. Ähnlich hoch ist der Anteil unter Rentnern und älteren Wählern. Auch bei den Jungen ist der Brexit mit fast der Hälfte ein entscheidendes Thema. Allerdings während die Liberal-Demokraten (LibDems) die einzige Partei, die mit Nachdruck eine Abkehr vom Brexit fordert und dafür einstehen will. Für ihre Anhänger ist es mit 66 Prozent das mit Abstand wichtigste Thema. Fast 80 Prozent von ihnen halten die Brexit-Entscheidung für einen Fehler. Über 60 Prozent der Labour-Anhänger sahen das auch so, fast 70 Prozent der Tory-Anhänger befürworten die Entscheidung weiterhin. Von den Tories, die für „Leave“ beim Brexit gestimmt haben, wandert nur ein sehr geringer Anteil zu Labour ab.

Beide Parteien wollen grundsätzlich den Brexit, aber Corbyn hat durchaus andere Vorstellungen davon als May. Wer für Corbyn statt May stimmte, entschied sich also keineswegs gegen den Brexit. Es zeigt aber, dass May sich nicht damit durchsetzen konnte, dass eine Wahlentscheidung für ihre Partei das Brexit-Votum stärken würde. Unter den Labour-Wählern ist Gesundheit, wozu auch die Pflege zählt, mit 57 Prozent das wahlentscheidende Thema; es liegt noch weit vor dem Brexit. Darin könnte auch ein Hinweis darauf stecken, dass sich May mit der Debatte über die sogenannte „Demenzsteuer“ selbst entscheidend geschadet hat. Im Wahlkampf hatte sie sich dafür ausgesprochen, ältere Briten sollten deutlich höhere Abgaben für die Pflege leisten. Eigentlich eine Reform, von der die Jungen profitieren würden, weil sie tendenziell entlastet würden. Es sind aber gerade die Jungen, für die Gesundheit ein entscheidender Grund ist, für Labour zu stimmen. Die Alten, eigentlich betroffen, bewegt das wenig. In dieser Gruppe zeigt sich im Zeitverlauf der vergangenen zwei Monate besonders deutlich, dass das Thema Innere Sicherheit nach drei Terroranschlägen innerhalb von drei Monaten massiv an Bedeutung gewonnen hat. Während es vor drei Monaten noch eher weniger entscheidend ist, rückt es nach dem Brexit als entscheidendes Thema auf Platz zwei. Davon kann Labour wenig profitieren. Zwar forderte Corbyn 10.000 Polizistenstellen (die Hälfte der Stellen, die May als Innenministerin gestrichen hatte), die konservativen Wähler honorierten das allerdings nicht.

Was sich bei konservativen wie linken Wählern zeigte: Sie wünschen sich nach den Terrorattacken der zurückliegenden Wochen mehrheitlich stärkere Eingriffsrechte der Polizei (70 Prozent der Tory-Anhänger) und unterstützen deutlich die Aussage Mays, islamistisch motivierten Terroristen dürfe keine falsche Toleranz entgegen gebracht werden. Die Angaben sind allerdings unter dem deutlichen Vorbehalt, dass es sich nicht um Ergebnisse aus Nachwahlbefragungen, sondern Umfragen handelt. In Deutschland werden Wähler nach der Stimmabgabe befragt, in Großbritannien wird etwa von YouGov über ein Onlinepanel in Form einer repräsentativen Umfrage erhoben. Alle hier genannten Umfragen sind, wenn sie keinen Zeitverlauf aufzeigen, zwischen dem 6. und 8. Juni erhoben worden.

Die prozentualen Anteile der Konservativen haben sich im Vergleich zu 2015, als David Cameron überraschend die absolute Mehrheit holen konnte, wenig verändert. Vor zwei Jahren führte das Mehrheitswahlrecht, das in Britannien gilt, dazu, dass eine Partei mit etwas mehr als 37 Prozent ein ganzes Land regieren konnte. Entscheidend ist nicht die absolute Zahl der Stimmen, sondern die Zahl der absolut gewonnenen Wahlkreise. Der Anteil der Wähler, die nicht bloß aus Überzeugung eine Partei wählen, sondern aus taktischen Motiven, ist in Großbritannien vergleichsweise hoch und im Vergleich zu vorherigen Wahlen deutlich gestiegen. Die britische Zeitung „Guardian“ bot ihren Lesern eine Übersicht von Wahlkreisen an, in denen man mit seiner Stimme die Tories verhindern könnte. In Schottland müsse man dann die schottischen Nationalisten wählen, im Nordwesten des Landes, im Wahlkreis Cheadle etwa, lieber die Liberaldemokraten und in Croydon Central in London Labour. Häufig war es in der Vergangenheit so, dass LibDems und Labour sich gegenseitig Stimmen weggenommen haben, was zum Sieg des Tory-Kandidaten führte. Das Mehrheitswahlrecht, das vor allem auf stabile Regierungsbildung setzt, könnte jetzt zum Problem werden. Die kleineren Parteien, LibDems und Schottische Nationalisten, können zwar – wie schon in der Vergangenheit – Koalitionspartner sein, aber rechnerisch reicht es mit Labour in einem Zweierbündnis für keine Mehrheit. Die Konservativen trennt programmatisch von den Kleinen vieles, ein Bündnis könnte schwierig werden. Besonders, wenn sie sich selbst als Verhinderer der Konservativen verstehen. Eine Hängepartie.

Wie sehr das Wahlergebnis eine Überraschung ist, zeigt sich auch in einzelnen Wahlkreisen. In Canterbury, der beschaulichen südenglischen Stadt mit der berühmten Kathedrale, hat Labour gesiegt – und zwar erstmals, seit der Wahlkreis 1918 geschaffen wurde. Kandidatin Rosie Duffield gelang es, dem Tory-Abgeordneten Julian Brazier seinen für völlig sicher gehaltenen Sitz abzunehmen, den er seit 30 Jahren innehatte. Gerade mal 187 Stimmen machten den Unterschied. Vorsichtshalber wurde in der Nacht zum Freitag zweimal ausgezählt.

Woran es in Canterbury lag? In der Region wurde im vergangenen Jahr noch überwältigend für den Brexit gestimmt. Wenn dort nun Labour siegt, ist das wohl noch kein Votum gegen den Brexit. Wie im ganzen Land kommen viele Gründe zusammen – Sicherheit, Brexit, Gesundheit und die Stärke oder Schwäche einzelner Kandidaten. Einen eindeutigen Sieger gibt es nicht. Aber eine Verliererin: Theresa May.

Quelle: F.A.Z.

Veröffentlicht: 09.06.2017 11:39 Uhr

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*