„Der Nationalismus ist viel stärker, als wir alle gedacht haben“

Die Sendung läuft erst wenige Minuten, da hat man schon etwas gelernt. Einen Begriff, den die Menschen in Luxemburg benutzen, wenn sie ausdrücken wollen, dass etwas bis ins kleinste Detail geregelt wird. Den sie verwenden, wenn es allzu penibel wird. Sie sagen dann: „Ausgedeutscht“.

Es ist die Politikerin Viviane Reding, die für die luxemburgischen Christdemokraten von der Chrëschtlech Sozial Vollekspartei (CSV) lange im EU-Parlament saß und zwischenzeitlich auch die Position einer EU-Kommissarin inne hatte, die den Begriff „ausdeutschen“ in die Diskussion einführt.

Reding benutzt das Wort, um zu erklären, dass das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs, dass Unternehmen dazu verdonnert, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter en détail zu erfassen, vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie es nun oftmals heißt.

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Denn das Gericht hat mit seinem Urteil ja kein haarkleines Regelwerk vorgeschrieben, wie es umgesetzt werden muss, sondern lässt den EU-Ländern dabei freie Hand. Wird das Ganze also erst dadurch so kompliziert, weil wir Deutschen zum überpeniblen „Ausdeutschen“ neigen? Machen wir es uns besonders schwer, weil wir die Regeln immer noch eine Runde ernster nehmen, als sie gemeint sind?

Die anstehende Europawahl ist das Thema von Sandra Maischbergers Sendung. Dem Motto dazu fehlt es nicht an Drama. „Die Schicksalswahl: Ist Europa wirklich in Gefahr?“: Das will die Moderatorin mit ihren Gästen klären.

Köchin Sarah Wiener kandidiert für die österreichischen Grünen

Viviane Reding ist 2018 aus dem Brüsseler Parlament ausgeschieden. Zwei andere Gäste von Maischberger wollen in das Parlament hinein: die bekannte Köchin Sarah Wiener, die als Quereinsteigerin für die österreichischen Grünen auf Listenplatz zwei ins Rennen zieht, und Nicola Beer, die Spitzenkandidatin der deutschen Liberalen im Europawahlkampf.

Außerdem diskutieren drei Journalisten mit, die sich schon lange mit Europapolitik beschäftigen: Udo von Kampen, der für das ZDF zwölf Jahre lang aus Brüssel berichtete, die polnische Journalistin Alexandra Rybinska, die für das Nachrichtenportal wPolityce arbeitet und aus ihrer Nähe zur konservativen PiS-Regierung in Warschau kein großes Geheimnis macht, und WELT-Europakorrespondent Dirk Schümer.

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Mit hohen Stimmengewinnen für nationalistische und populistische Parteien bei der Europawahl rechnen derzeit viele. Zwischen 30 und 40 Prozent der Sitze im EU-Parlament könnten am Ende auf diese Gruppierungen, die dem Parlament, für das sie kandidieren, äußerst kritisch gegenüberstehen, entfallen. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

Dirk Schümer glaubt, dass die vielen ungelösten Probleme der Gegenwart, etwa die Sicherung der europäischen Außengrenzen oder die Folgen der Eurokrise, die Wähler zu den EU-Kritikern treiben. „Der Nationalismus ist viel stärker, als wir alle gedacht haben“, sagt er. Weil der Staatenbund die Probleme nicht in den Griff bekommt, setzen die Menschen ihre Hoffnungen wieder in den Nationalstaat.

„Es ist billig, mit Populismus Stimmen zu generieren“

Sarah Wiener meint, dass die Populisten Stimmen gewinnen, weil sie Panik verbreiten. Sie schüren Angst vor „Horden an Flüchtlingen“, zeichnen das falsche Bild eines überfluteten Kontinents. „Es ist billig, mit Populismus Stimmen zu generieren“, sagt die grüne Kandidatin ohne Parteibuch.

Auch Udo von Kampen warnt eindringlich vor den Europaskeptikern. „Das Ziel von linken und rechten Populisten ist es, die EU zu zerstören“, mahnt der frühere Brüssel-Reporter vom ZDF.

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Alexandra Rybinska dagegen sieht die Schuld bei der EU. Sie wirft den Brüsseler Beamten und Politikern Ignoranz vor. „Ich bin immer wieder erstaunt über die Selbstzufriedenheit der EU-Politiker“, sagt die polnische Journalistin. „Es gibt nicht die geringste Selbstkritik aus Brüssel.“

Osteuropäer fühlen sich „wie Kleinkinder behandelt“ 

Rybinska prophezeit, dass der Graben zwischen den Staaten im Westen Europas und denen im Osten weiter wachsen wird. Viele in ihrer Heimat würden sich, nach der Europa-Euphorie, die der Beitritt Polens zum Staatenbund im Jahr 2004 auslöste, mittlerweile als EU-Bürger zweiter Klasse fühlen. „Wir haben das Gefühl, dass wir wie Kleinkinder behandelt werden“, sagt sie. „Demokratie traut man uns nicht zu.“

Heftig gestritten wird über die polnische Justizreform, die viel Kritik ausgelöst hat. Weil in Polen zahlreiche oberste Richter zwangspensioniert wurden, hat die EU-Kommission eine Klage gegen die umstrittene Reform eingereicht.

Aleksandra Rybinska (polnische Journalistin) und Viviane Reding (ehemalige EU-Kommissarin)

Aleksandra Rybinska (polnische Journalistin) und Viviane Reding (ehemalige EU-Kommissarin)

Quelle: WDR/Max Kohr

Viviane Reding sieht wegen der Reform „die Basiswerte einer Demokratie und die Unabhängigkeit der Justiz“ in Gefahr. Und auch Udo von Kampen hat viel Verständnis für die lautstarke Empörung über die Entwicklung in Polen. „Mit vollem Recht müssten da Grenzen gezogen werden“, sagt er.

Alexandra Rybinska spielt das Ganze herunter. Die Einschätzung, dass die Unabhängigkeit der Gerichte gefährdet sei, teilt sie nicht. „Die Polen wollen die Justizreform“, sagt sie. Und sie behauptet: „An den Gerichten hat sich gar nicht viel geändert.“

Brexit Party könnte einer der großen Gewinner werden

Ein hervorragendes Wahlergebnis wird die Europawahl, wenn die Umfragen stimmen, auch einer neuen Partei aus Großbritannien bescheren: der erst im Januar gegründeten Brexit Party von Nigel Farage, dem Architekten des britischen EU-Ausstiegs. Prognostiziert wird, dass die neue Partei des früheren UKIP-Chefs bei der Wahl, an der das Land eigentlich schon gar nicht mehr teilnehmen wollte, mehr Stimmen als Tories und Labour zusammen erhalten wird.

„Das kann man niemanden mehr erklären, was in Großbritannien gerade passiert“, sagt WELT-Korrespondent Dirk Schümer. Als „historisches Kuddelmuddel“ bezeichnet er die Brexit-Verhandlungen. „Alle, die den Brexit wollen, wählen jetzt Farage.“

Brexit-Partei läuft den etablierten Volksparteien davon

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Die britische Brexit-Partei könnte bei der Europawahl einen Erfolg einfahren. Einer Erhebung zufolge käme die Farage-Partei derzeit auf mehr Stimmen als die beiden etablierten Volksparteien zusammen.

Quelle: WELT / Kevin Knauer

„Die EU-Wahl wird zur Abstimmung über den Brexit“, sagt auch Nicola Beer. Ihrem Frust über das „Chaos im Unterhaus“ werden die Wähler dabei freien Lauf lassen, vermutet die FDP-Politikerin. Sie weist aber darauf hin, dass auch die britischen Parteien, die den Brexit strikt ablehnen, bei der Wahl vermutlich überdurchschnittlich gut abschneiden werden: die Liberalen und die Grünen.

Ist Europa noch zu retten?

Was kann langfristig – über den Wahlsonntag hinaus – helfen, um die Europäische Union wieder in ruhigeres Fahrwasser zu bringen? Wie überlebt die europäische Idee?

Nicola Beers Antwort lautet: Die EU muss bessere Politik machen. „Wir sind nicht gut in der Außenpolitik, das muss sich ändern“, sagt sie.

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Udo von Kampen meint, dass wir mehr über die Erfolge und die Vorteile von Europa sprechen müssen, dass wir uns nicht in der „Klein-Klein-Kritik“ verzetteln dürfen.

Die polnische Journalistin Rybinska setzt dagegen auf ein „Europa der Nationen“ und warnt vor einer Entwicklung „in Richtung supranationaler Staat“. Sie sagt: „Der Nationalstaat ist kein überholtes Modell.“

Dirk Schümer wünscht sich mehr Dialog – gerade auch zwischen Ost und West. „Wir müssen mehr miteinander reden, wir müssen wieder mehr aufeinander zu gehen“, empfiehlt der Journalist.

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