Ibiza-Video stürzt Österreichs Kanzler Kurz in die Krise

Steht die Koalition zwischen der konservativen ÖVP und der rechtspopulistischen FPÖ unter Führung von Bundeskanzler Sebastian Kurz wegen eines heimlich aufgenommenen Videos nach 18 Monaten vor dem Aus? Sicher scheint nach Informationen der WELT zu sein: Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) und der Fraktionschef der Freiheitlichen im Nationalrat (dem österreichischen Pendant zum Bundestag), Johann Gudenus (FPÖ), werden ihre Ämter verlieren.

Wien am Freitagnachmittag gegen 16.00 Uhr: Erste Meldungen sickern im Regierungsviertel durch, dass Strache bei einem Treffen auf Ibiza im Juli 2017 bereit gewesen sei, einer angeblichen russischen Oligarchin als Gegenleistung für Wahlkampfhilfe öffentliche Aufträge zuzuschanzen. Auch Gudenus war anwesend, wie auf einem heimlich aufgenommenen Video zu sehen ist, das der „Süddeutschen Zeitung“ und dem Magazin „Der Spiegel“ zugespielt wurde.

FPÖ-Chef Strache gerät massiv ins Zwielicht

Screenshot aus einem Video von 2017: Strache (r.), Gudenus und dessen Ehefrau im Gespräch mit einer angeblichen russischen Oligarchin (nicht im Bild)

Quelle: dpa/-

Das Gespräch soll sechs Stunden gedauert haben. Bei dem Gespräch wurde die Möglichkeit einer Übernahme des einflussreichen österreichischen Boulevardblatts „Kronen-Zeitung“ durch die angeblich schwerreiche Frau ausgelotet. Die Russin sei allerdings ein Lockvogel gewesen, bei dem Treffen habe es sich offenbar um eine Falle gehandelt.

Video voller Zündstoff

Die Zeitung, so Strache bei dem Treffen, könne im Fall einer Übernahme kurz vor der Wahl Ende 2017 zugunsten der FPÖ Partei ergreifen. Strache sagte, dass die FPÖ dann nicht mit 27 sondern mit 34 Prozent rechnen könne. Als Gegenleistung für die Unterstützung sei nach der Wahl die Vergabe öffentlicher Aufträge an zu gründende Bauunternehmen denkbar. Die Frau habe sich als Nichte eines russischen Oligarchen ausgegeben und gesagt, sie wolle eine Viertelmilliarde Euro in Österreich investieren, berichtet der „Spiegel“. Sie habe mehrmals angedeutet, dass es sich dabei um Schwarzgeld handle. Ein Video voller Zündstoff.

Kanzler Kurz (l.) hat sich von Vizekanzler Strache schon abgewendet

Kanzler Kurz (l.) hat sich von Vizekanzler Strache schon abgewendet

Quelle: dpa/Georg Hochmuth

Gegen 18.00 Uhr ist allen maßgeblichen Politikern in Wien klar, dass die Äußerungen Straches die politische Landschaft in Österreich durcheinanderwirbeln können. Die Parteispitzen treffen sich zu Krisensitzungen. Der ORF und die privaten Sender organisieren Sondersendungen. Gerüchte schwirren durch die Kaffeehäuser rund um die Wiener Hofburg und um das Burgtheater. Demnach könnte es noch weitere Video-Aufnahmen geben. Bestätigt wurde das bisher nicht.

Rücktrittsforderungen

Im Laufe des Abends steigt der Druck auf die belasteten Politiker. Die SPÖ und die Grünen fordern Strache und Gudenus zum Rücktritt und Kanzler Kurz zur Übernahme von Verantwortung auf. „Der Weg in die illiberale Demokratie – für manche offenbar ein Synonym für Kleptokratie  – war lange geplant. Es ist Zeit, diesem Spuk ein Ende zu machen“, sagte SPÖ-Chefin Rendi-Wagner.

Kanzler Kurz schweigt. Er kündigte aber für Samstag eine Stellungnahme an. Kurz befindet sich zum ersten Mal in seiner politischen Laufbahn tief in der Krise – jetzt muss er zeigen, was er kann. Kurz weiß genau: Wenn er jetzt einen Fehler macht, kann ihn das schon bald die Kanzlerschaft kosten und womöglich das Ende seiner kometenhaften Karriere bedeuten. Andererseits steht Kurz aber auch vor der Frage: Kann er vielleicht von der neuen Situation profitieren?

„Viel Alkohol im Laufe des Abends gereicht“

Die FPÖ war bereits am 15. Mai von „Süddeutscher Zeitung“ und „Spiegel“ über das Video informiert und um eine Stellungnahme gebeten worden. Strache und Gudenus erklärten nahezu übereinstimmend, das Gespräch habe „in lockerer, ungezwungener und feuchtfröhlicher Urlaubsatmosphäre stattgefunden.“ Es sei „viel Alkohol im Laufe des Abends gereicht“ worden. Strache teilte außerdem mit: „Auf die relevanten gesetzlichen Bestimmungen und die Notwendigkeit der Einhaltung der österreichischen Rechtsordnung wurde von mir in diesem Gespräch bei allen Themen mehrmals hingewiesen.“

Am Freitagabend legt die FPÖ nach. „Derzeit prüfen unsere Rechtsanwälte das uns zugängliche Material. Da das Video ganz offensichtlich illegal aufgenommen wurde, bereiten wir auch entsprechende Rechtsschritte vor“, so FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker in einer Stellungnahme. Wenn ein derartiges Video , das zwei Jahre alt ist, eine Woche vor der EU-Wahl an die Öffentlichkeit gebracht werde, stelle sich natürlich auch die Frage, wer daraus Nutzen ziehe.

Lesen Sie auch
Kombo Wolf Poschardt

Österreich

Diese Verteidigungslinie ist dünn. Sie ist nach einem einfachen Muster gestrickt: Angriff ist die beste Verteidigung. Die eigenen Reihen sollen geschlossen werden gegen „den Feind“ von außen. Aber Strache und Gudenus können das Gesagte nicht mehr rückgängig machen. „Es ist große Aufregung im Land. Es ist sehr überraschend, dass ein heutiger Spitzenrepräsentant der Republik sogar kurz vor den Nationalratswahlen so geredet hat“, sagt Nina Horaczek, die eine Biographie über Strache geschrieben hat und für die Wochenzeitung “Falter‘ in Wien arbeitet. 

Kurz hat zwei Optionen

Die große Frage ist jetzt: Was macht Kurz? Er hat zwei Optionen: Erstens: Nach dem Rücktritt von Strache und Gudenus hält er weiterhin an der FPÖ fest und macht den derzeitigen Verkehrsminister Hofer zum Vizekanzler. Innenminister Herbert Kickl, der vielen als „Gehirn“ der FPÖ gilt, bliebe dann im Amt. Zweitens: Kurz kündigt die Koalition mit der FPÖ auf und setzt für den Herbst Neuwahlen an.

Lesen Sie auch
Henryk M. Broder stellt im Umgang mit Österreich deutschen "Neokolonialismus" fest

Kritik an Regierung Kurz

Am Ende dürfte Kurz die Variante wählen, die der ÖVP die besten Chancen einräumt, möglichst unangefochten die stärkste Regierungspartei im Land zu bleiben und möglicherweise in der Wählergunst sogar noch zuzulegen. Aber es ist gerade unklar, welche Variante das ist.

Kurz, der sich bereits innerlich von Strache verabschiedet hat und am Samstag auf maximale Distanz von seinem Vizekanzler gehen wird, dürfte sich viele Stunden mit dieser Frage gequält haben. Es ärgert den jungen Kanzler, dass das Tohuwabohu so kurz von den EU-Wahlen passiert. Das könnte den Vorsprung der ÖVP vor den Sozialdemokraten gefährden – er betrug in den Umfragen zuletzt ohnehin nur ein bis zwei Prozentpunkte. Die SPÖ vor der ÖVP bei den Europawahlen in einer Woche – das wäre ein Trauma für Kurz.

Gefahr der rechten Schmuddelecke

Der Politiker aus dem Wiener Arbeiterbezirk Meidling ist ohne jede Vorwarnung in eine Situation hinein geschlittert, die er hasst: Er kann den Lauf der Dinge im Moment nur noch begrenzt kontrollieren – Ausgang unklar.

Lesen Sie auch
Austria's Chancellor Kurz addresses the media in Vienna

Sebastian Kurz

Es mag sein, dass Kurz versuchen wird, mit dem relativ seriösen Hofer als neuem Vizekanzler einen Neustart der Koalition zu versuchen. Die EU-Partner dürften darauf allerdings irritiert reagieren, die türkis-blaue Koalition wurde zuletzt in Brüssel bereits zunehmend kritisch gesehen. Kurz muss dann fürchten, dort zu landen, wo er auf keinen Fall hin will: in die rechte Schmuddelecke.

Hinzu kommt, dass die FPÖ nach den Wahlverlusten bei den Europawahlen infolge der Video-Affäre ein schwieriger und unberechenbarer Koalitionspartner werden könnte. Vieles spricht darum für Neuwahlen. Im Kanzleramt dürften in der Nacht alle möglichen Umfragen studiert worden sein.

Wiederholt sich „Knittelfeld“?

Besonders könnte die Kurz-Berater dabei interessiert haben, ob es möglicherweise reichen wird bei Neuwahlen für eine Zusammenarbeit mit kleineren Parteien wie den Neos, einer liberalen Partei mit frischen Gesichtern und originellen Ideen, von der sich die FDP noch viel abgucken könnte. Andererseits: Eine Koalition mit der SPÖ geht immer. Die Sozialdemokraten befinden sich derzeit in einem Erneuerungsprozess und sie haben mit Pamela Rendi-Wagner eine neue Vorsitzende, die Kurz bisher erstaunlich unterschätzt. Aber Kurz hat wenig Lust auf die SPÖ: sie ist ihm zu verkrustet und zu wenig reformfreudig.

Lesen Sie auch
Der SPÖ-Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner zufolge hat Kanzler Sebastian Kurz der Rechten die Tür geöffnet

Österreich

In Wien machte in der Nacht aber auch immer wieder auch das Wort „Knittelfeld 2.0“ die Runde. Der Begriff steht für ein Trauma der FPÖ und einen Triumph der Konservativen. Die Partei hielt im September  2002 in steirischen Knittelfeld einen außerordentlichen Parteitag mit 400 Delegierten ab. Es ging hoch her bei der Versammlung, am Ende gab es einen Machtwechsel in der Partei. Mehrere FPÖ-Minister traten zurück, die Koalition zwischen ÖVP und FPÖ unter dem damaligen Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) – der noch heute einer der wichtigsten Vertrauten von Sebastian Kurz ist – zerbrach. Es folgten Neuwahlen. Dabei sackte die FPÖ von knapp 27 Prozent auf zehn Prozent der Wählerstimmen ab. Die ÖVP verzeichnete dagegen einen Erdrutschsieg – und am Ende koalierten beide Parteien weiter miteinander. Es darf als sicher gelten, dass Kurz und Schüssel Freitagabend intensiv über diese Möglichkeit gesprochen haben.

Noch sind viele Fragen offen

Abgesehen von den möglichen politischen Folgen in Österreich sind viele Fragen in Zusammenhang mit dem Video noch offen: Wer hat das Video veranlasst? Warum hatten offenbar gewisse Personen, wie angeblich auch der Satiriker Jan Böhmermann, schon vor Wochen Kenntnis von dem Video? Ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung eine Woche vor den Europawahlen zufällig oder bewusst gewählt worden? Der Ösi-Krimi steht noch ganz am Anfang. 

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*