Kurz vor dem Bankrott

Die soziologische Theorie des „symbolischen Interaktionismus“ lässt sich in einem einfachen Satz zusammenfassen: Wenn die Leute sagen, du bist pleite, dann bist du pleite. Für die SPD scheint diese Theorie zuzutreffen. In einer aktuellen Forsa-Umfrage liegt sie bei elf Prozent und damit bundesweit hinter Grünen, CDU/CSU und AfD auf Platz vier. „Die SPD ist keine Volkspartei mehr“, sagt Wolfgang Merkel, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung – und selbst Sozialdemokrat: „Sie muss endlich aufhören, so zu tun, als wäre sie es noch.“

Für Merkel ist die SPD gegenwärtig vor allem auf eines spezialisiert: Wahlen zu verlieren. Galt das Europawahlergebnis von knapp 16 Prozent als katastrophal, so scheint es inzwischen noch unterbietbar. Die Sozialdemokraten erreichen keine jungen Wähler mehr, und auch bei den Frauen und den wenigen verbliebenen Arbeitern sieht es schlecht aus. Eine Austrittswelle unterspült die Partei: Zuletzt sank die Mitgliederzahl auf unter 440.000 Genossen.

Nun könnte man sagen: Immerhin gibt es noch knapp 438.000 Mitglieder, dazu arbeitsfähige Fraktionen im Deutschen Bundestag und in 16 Landtagen, sieben SPD-Regierungschefs, Beteiligungen an elf Landesregierungen und der Bundesregierung, viele Oberbürgermeister und Landräte deutschlandweit, ein beachtliches Parteivermögen. Noch also gibt es für die Partei vieles, um das es sich zu kämpfen lohnt.

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Kombo Schmid SPD

Partei im Niedergang

Mit ihrem Rücktritt am 2. Juni als Partei- und Fraktionsvorsitzende reagierte Andrea Nahles auf den innerparteilich gestiegenen Druck. Dieser war nach den desaströsen Ergebnissen bei der Europa- und der Bürgerschaftswahl in Bremen schlicht zu groß geworden. Doch das Partei-Establishment nutzte Nahles’ von vielen als aufrecht empfundene Entscheidung nicht, um wieder in die Offensive zu kommen. Niemand wagte sich aus der Deckung, niemand erhob und begründete seinen Führungsanspruch.

Stattdessen etablierte der Parteivorstand mit den beiden Ministerpräsidentinnen Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz) und Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) sowie dem hessischen Landesvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel ein kommissarisches Führungstrio, und die Funktionäre stürzten sich umgehend wieder in ihr Lieblingsspiel: Personaltableaus auszukungeln, potenzielle Konkurrenten zu beschädigen und Verfahren zu debattieren. Doppelspitze? Regionalkonferenzen? Mitgliederbefragung? Müssen Bewerber für den Parteivorsitz von Ortsvereinen oder Bezirken nominiert werden? Und was geschieht, wenn jemand erst auf dem formal in jedem Fall nötigen Parteitag spontan seine Kandidatur erklärt?

Der aktuelle Stand der Dinge: Da in der zerrütteten Partei gegenwärtig diejenigen am meisten Ansehen genießen, die nichts für sich selbst zu wollen scheinen, könnte ein Nahles-Nachfolgeszenario so aussehen: Fraktionsvorsitzender bleibt der zunächst interimistisch eingesetzte Rolf Mützenich aus Nordrhein-Westfalen; Parteivorsitzender wird Ministerpräsident Stephan Weil aus Niedersachsen. Damit wären die beiden großen Landesverbände, die wesentlich zu Nahles’ Sturz beitrugen, jeweils zufriedengestellt.

Doppelspitze erscheint als plausibelste Lösung 

Das Problem: Es wären dann zwei Männer in den Spitzenämtern der SPD. Dieses Quotenvergehen ließe sich aber durch eine „Doppelspitze“ im Parteivorsitz abmildern: Dem 60-jährigen Weil könnte eine junge Frau zur Seite gestellt werden, zum Beispiel die ehemalige Juso-Bundesvorsitzende Johanna Uekermann aus Bayern. Mit der linken Genossin hätte man ganz nebenbei auf elegante Weise Kevin Kühnert verhindert, was vielen etablierten Funktionären eine Herzensangelegenheit zu sein scheint.

Für die Plausibilität dieses Szenarios sprechen manche Gerüchte – und Indizien wie zum Beispiel das demonstrative Abwinken des niedersächsischen Bundesministers Hubertus Heil, der ebenso demonstrativ seinen Favoriten für den Parteivorsitz „noch“ nicht nennen wollte. Oder die etwas unmotiviert russlandfreundlichen Töne Weils, der im Augenblick ja gar nichts Außenpolitisches sagen müsste, wenn er nicht nach Höherem streben würde und deshalb Absicherung in traditionslinken Parteiströmungen brauchte.

Kühnert erhält aus SPD-Reihen Zustimmung für Vorsitzkandidatur

Zuletzt umstritten, nun erhält er Rückenwind aus den eigenen Reihen – Kevin Kühnert wird von einigen SPD-Politikern für die Kandidatur um den Parteivorsitz favorisiert. Doch wie steht es um die anderen Parteimitglieder?

Quelle: WELT/ Sebastian Struwe

In Partei und Bevölkerung käme eine neue Sanftheit gegenüber Russland wahrscheinlich gar nicht schlecht an – aber ist sie der Glaubwürdigkeit der SPD zuträglich? Oder äußert sich darin genau jenes „rein taktische“ Verhalten, vor dem der heutige Vizekanzler Olaf Scholz im Oktober 2017, nach der verlorenen Bundestagswahl, eindringlich warnte? Sein Weckruf-Papier von damals trägt übrigens den Titel „Keine Ausflüchte!“ Es bewirkte: nichts.

Von Ostfriesland bis Bayern, von Mecklenburg-Vorpommern bis Baden-Württemberg reicht der Frust an der Basis. Viele Mitglieder wünschen sich den Rücktritt des gesamten Parteivorstandes. Wie konnte es zu dieser dramatischen Entfremdung zwischen Partei und Wählern einerseits sowie zwischen Basis und Führung andererseits kommen?

Die Parteiführung weiß seit Langem, dass ihr die Bodenhaftung abgesprochen wird. Nach dem Debakel bei der Bundestagswahl 2017 beauftragte der damalige Vorsitzende Martin Schulz eine Arbeitsgruppe mit der schonungslosen Analyse des historisch schlechten Wahlergebnisses von 20,5 Prozent. Unter dem Titel „Aus Fehlern lernen“ veröffentlichte diese Gruppe eine 100-seitige Bestandsaufnahme.

Darin wird der Zerfall der SPD in drei Schichten beschrieben: erstens Bundesführung, zweitens Funktionäre in Landesregierungen und SPD-Landesvorständen – und drittens Basis. „Das zweifelnde Gefühl, die da oben können es nicht, hat sich wie ein Virus ausgebreitet“, heißt es in dem Papier. Und weiter: „Die Gilde der FunktionärInnen hat sich weit entfernt von der Sicht der Basismitglieder.“

Das Analysepapier war eine Warnung vor einer Instrumentalisierung der Mitglieder durch die Führung zum Zwecke des eigenen Machterhaltes: „Die Parteiführung sollte sich vor Pseudobeteiligung und vor nur vermeintlich ergebnisoffenen Debatten hüten.“ Doch seit der Bundestagswahl hat die Führung genau das Gegenteil getan: ein letztlich folgenloses „Debattencamp“ veranstaltet und in der aktuellen Führungskrise per E-Mail persönliche Rettungsvorschläge von 25.000 Mitgliedern eingesammelt, von denen niemand weiß, was damit anzufangen ist.

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Juso-Chef Kevin Kühnert ist einer der Kandidaten für den SPD-Vorsitz nach dem Rücktritt von Andrea Nahles

Krise der SPD

Selbst wenn es Mitarbeitern des Willy-Brandt-Hauses gelingen sollte, sie sinnvoll auszuwerten – worauf stützt sich die Hoffnung, dass der Parteivorstand darauf konstruktiver reagiert als auf das „Fehler“-Papier selbst? Er zog ja auch in der Vergangenheit nie Konsequenzen, weder nach der Bundestagswahl 2017 noch nach der Kehrtwende zur Regierungsbeteiligung 2018. Ändert sich das nach dem Europawahl-Debakel und dem Nahles-Rücktritt?

Für Sachsen-Anhalts SPD-Landeschef Burkhard Lischka kommt es nun darauf an, dass seine Partei nicht auf „seitenlange Kompromisspapiere“ setze, sondern „zentrale Fragen“ kläre. „Die Tendenz, solche grundsätzlichen Klärungen nicht herbeizuführen, um bloß niemanden zu verprellen, hat unsere Konturen in manchen Bereichen bis zur Unkenntlichkeit verwässert“, sagte der Innenexperte auf WELT-Anfrage.

Ein Problem bei der unklaren Ausrichtung der Partei ist auch der Vorstand, der zwar die politische Verantwortung für das Schicksal der Partei verwaltet, aber noch immer durch den 2017 zurückgetretenen Vorsitzenden Sigmar Gabriel geprägt ist.

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WELT-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld

Meinung Union und SPD ohne Kompass

Mit dem Slogan „Europa ist die Antwort“ wollte die SPD in die „offensten und härtesten Auseinandersetzungen“ des EU-Wahlkampfes gehen – so stand es zumindest im „Mission-Statement“ des verantwortlichen Werbers Frank Stauss. Am Ende gab es dafür 15,8 Prozent der Stimmen. Nur ein Beispiel für eine zuletzt vollkommen an der Basis vorbeikommunizierenden Partei.

Der kommissarische Parteivorsitzende Schäfer-Gümbel, dem es im Jahr 2008 immerhin gelang, einen tiefen Riss in der hessischen SPD zu kitten, räumt ein, dass sich die Partei „in einem sehr schweren Fahrwasser“ befinde. Er sagt: „Der Grat zwischen der Position ‚keine Schnellschüsse‘ und dauerhafter Selbstbeschäftigung ist schmal.“

Die Autorin ist SPD-Mitglied und war von 2012 bis 2013 Oberbürgermeisterin von Kiel.

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