Europa ist krank. Besserung ist nicht in Sicht

Ein kurzer Rückblick auf die vergangenen Tage: Am Samstag vor einer Woche finden die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin statt. Beim Auftritt der Sängerin Anna Loos wird völlig zusammenhangslos ein hebräischer Schriftzug eingeblendet, übersetzt heißt er: „Genug mit der Besatzung“, Israel wird damit in den Kontext der DDR-Diktatur gerückt.

Am selben Tag, dem 9. November, sagt Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdische Gemeinde Halle, im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“, dass er nach dem Terroranschlag auf den Dönerladen und die Synagoge in seiner Stadt ans Auswandern denke. Auf Facebook und Twitter äußern sich Menschen nach der Lektüre massenhaft und mit Klarnamen antisemitisch und beleidigen Privorozki.

Am nächsten Morgen, 10. November, wachen viele Juden in drei Ländern Europas – Schweden, Dänemark und Norwegen – auf und stellen fest, dass ihre Gotteshäuser, aber auch Arbeitsplätze und Geschäfte mit Aufklebern beklebt wurden, die dem sogenannten „Judenstern“ nachempfunden sind, den Juden während der Zeit des Holocausts tragen mussten.

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Antisemitismus in Deutschland

Als der MDR am 11. November über die Beleidigungen gegen Privorozki berichtet, lassen Nutzer unter dem Bericht ihrer Abneigung gegen Juden freien Lauf: „Reisende soll man nicht aufhalten.“ Ebenfalls am 11. November treffen sich Rechtsextreme aus ganz Europa in Polen, um Judenhass und rechtsradikale Parolen zu verbreiten. Mehrere Zehntausend Menschen nehmen daran teil.

Am 13. November wird durch Recherchen des ZDF ein Video bekannt, in dem der AfD-Politiker Donatus Schmidt aus Halle Verschwörungstheorien verbreitet, wonach „die Juden“ hinter dem Terroranschlag des 11. Septembers 2001 in New York steckten. Selbst Politiker, die ihre Äußerungen wohl gut meinen, grenzen in diesen Tagen Juden gedankenlos aus.

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Judenfeindlichkeit

Karl Lauterbach, ein SPD-Politiker, der Parteivorsitzender werden wollte, twitterte in der vergangenen Woche „Juden haben die gleichen Rechte wie wir“ – als wären Juden Teil einer ominösen Gruppe oder jedenfalls kein Teil der durchschnittlichen Gesellschaft.

Antisemitismus ist ein uraltes Problem. Man kann ihn auch als Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft begreifen. Je kränker sie ist, umso präsenter ist der irrationale Hass auf Juden. Max Privorozki sagte im Interview auch: „Sich offen als Antisemit zu zeigen, ist nicht mehr peinlich. Wobei dieser Antisemitismus nicht nur von Neonazis und Rechtsextremisten kommt, sondern auch von Islamisten propagiert wird.“ Europa ist krank. Besserung ist nicht in Sicht.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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Quelle: DW

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