Viel ist faul im Staate der Briten

Man wird gerne gefragt, wie man sich fühlt beim Erreichen eines neuen Geburtstages. Gar nicht, pflegt das aufgeklärte Gemüt zu antworten: ein Tag mehr, na und? So reagieren auch viele Briten, wenn man sie fragt, wie sie sich fühlen am Übergang ins neue Lebensjahr, ohne die EU. Sie spüren es nicht oder wollen es nicht spüren, und in der Tat ist es schwer nachzuweisen, dass sich für den Mann auf der High Street irgendetwas geändert hat vom 31. Januar zum 1. Februar 2020.

Greifbarer wird die Zäsur erst am 31. Dezember dieses Jahres. Erst dann wird man mehr über die Einzelheiten der künftigen Handelsbeziehungen zwischen der Insel und dem Kontinent wissen, und die Vorstellungskraft kann sich auffüllen anhand konkreter Fakten, die heute noch nicht sichtbar sind.

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Manfred Weber

Dennoch: Ein Endpunkt ist erreicht, Abschied tut not, während der Walfisch, wie Napoleon das unangreifbare Britannien nannte, davonschwimmt. Wohin? Dean Acheson, US-Außenminister der Nachkriegszeit, gab 1962 seinen berühmten Kommentar zum Besten: England habe „ein Empire verloren, aber noch keine neue Rolle gefunden“.

Das trifft auch auf die heutige Stunde zu. Der Verlust der EU ist zwar nicht als unsteuerbares Schicksal über die Briten gekommen, sie haben vielmehr selbstbestimmt diesen Weg gewählt, aber, wie Acheson folgerte, „noch keine neue Rolle gefunden“.

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Dieser heiklen Frage wich Premierminister Johnson in seiner Videoansprache gestern Abend aus, griff stattdessen zu einer klassischen Theatermetapher: „Dies ist der Moment, wenn die Morgendämmerung heraufzieht und der Vorhang hochgeht zu einem neuen Akt. Es ist ein Moment nationaler Erneuerung, Veränderung.“ Die Bühne, der spannungsreiche Ort. Was skizziert der Premier, wenn der Vorhang zum Nach-EU-Drama hochgeht: „nationale Erneuerung“.

Er ist gut beraten, das Wort „global“ einmal zu vermeiden. Denn was sich global derzeit abspielt und die Zukunft weiter überschattet, ist hohnlachende Unberechenbarkeit, die jede Definition einer „globalen Rolle“ entwertet. Besser, man bleibt bei seinen Leisten und spricht von „nationaler Erneuerung“. Damit markiert Boris Johnson die größte Herausforderung für den Lebensweg der Insel jenseits der EU.

UK Flag Removed From EU Council Due To Brexit

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Quelle: Getty Images/Thierry Monasse

Denn viel ist faul im Staate der Briten. Sie sind fast vier Jahre lang nicht mehr ordentlich regiert worden, während der Brexit-Bürgerkrieg tobte, und dem Zustand des Landes sieht man es an, die Vernachlässigung der heimischen Agenda hat sich auf vielen Feldern krisenhaft zugespitzt. An der Bewältigung dieser Aufgaben wird der Bürger ablesen können, was die viel beschworene Souveränität ihm bringt.

Harry Potter bleibt Harry Potter und Shakespeare Shakespeare

Andernfalls würde der Slogan, der dem Brexit schließlich zum Durchbruch verhalf – „Take back control!“ –, sich als folgenschwerer Irrtum erweisen. Was ohnehin passieren kann, wenn die zentrifugalen Kräfte im Königreich stärker werden, Nordirland sich mit dem Rest der Grünen Insel vereinigt und schottischer Patriotismus, schottische EU-Nähe auf Trennung von England pocht.

Ist Sentimentalität über den Abschied der Briten aus der EU angebracht? Gewiss, die Politik verliert einen wichtigen Spieler in Europa und wird gut daran tun, die Briten nicht zu vergessen als Mitgaranten unserer kollektiven Sicherheit. Aber die Ausstrahlung der Insel verrät eine kulturelle Soft Power, die einzig dasteht im globalen Dorf. Daran wird sich wenig ändern.

Englisch bleibt die Lingua franca des Globus, nach Oxford und Cambridge drängt weiter die studierende Elite von überall. London verliert nicht seine historische Magie, die englische Literatur nicht ihre erzählerische Qualität, „Harry Potter“ bleibt „Harry Potter“ und Shakespeare Shakespeare, der große Darsteller der „condition humaine“.

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Weiß die britische Politik um die dringliche Aufgabe, diese Aktivposten zu bewahren, sie nicht zu beschädigen? Der Brexit hat eine deutliche Abweisung von zu viel Einwanderung an den Tag gebracht, der Ruf nach „Überfremdung“ in dieser multikulturell so entwickelten Gesellschaft ist unüberhörbar, Teil der Abwehr von zu viel Globalisierung, was vor allem im Norden Englands den Abfall von der EU beflügelt hat.

Eine konservative Regierung, die dem Rechnung tragen will, kann mit Beschränkungen des Zugangs zu Großbritannien leicht einer Xenophobie den Weg bereiten, einer Kleinkariertheit, die unserem traditionellen Bild von der weltoffenen Insel nicht mehr entspricht. Schon fühlen sich manche der nach Millionen zählenden EU-Bürger auf der Insel weniger willkommen als früher, obwohl doch ohne ihr Zutun viele englische Dienstleistungen schier zusammenbrechen müssten.

Alles hängt davon ab, ob die britische Politik nach dem Brexit die tatsächliche Größenordnung des Landes richtig einzuschätzen weiß. 1949 schrieb ein Berater des Verteidigungsministeriums, Sir Henry Tizard, ein vertrauliches Papier, das die Verantwortlichen sogleich in den Giftschrank stellten, weil sie es nicht hören wollten: „Wir haben von uns selber das Bild einer Großmacht, die nur zeitweilig durch ökonomische Schwierigkeiten gehandicapt ist. Wir sind aber keine Großmacht mehr und werden niemals wieder eine sein. Wir sind eine große Nation, aber wenn wir uns weiter wie eine Großmacht aufführen, werden wir bald aufhören, auch eine große Nation zu sein.“

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