Die gezielte Ungleichbehandlung bahnt sich an

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich – so lautet der erste Satz von Artikel 3 des Grundgesetzes. Auch diese Grundüberzeugung ist in der Corona-Krise Anlass dafür, dass die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Virus für alle gleichermaßen gelten. Zumindest vordergründig. Alle sollen Kontakte vermeiden, sie idealerweise auf eine zweite Person reduzieren. In einigen Bundesländern können die Bürger das Haus oder die Wohnung nur noch mit triftigen Gründen verlassen.

Das gilt für Jung und Alt gleichermaßen. Noch.

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Schon bisher gab es allerdings eine Art Ungleichhandlung in der Seuchenbekämpfung: Jene, die ihren Job nicht im Homeoffice erledigen können, dürfen an ihre Arbeitsplätze gelangen und sich dort aufhalten. Dass dies nicht selbstverständlich ist, wird in Ländern wie Spanien, Italien oder zuvor in China vorexerziert. Dort wurde oder wird auch das Arbeitsleben stark beschnitten.

In Deutschland gibt es eine Ungleichbehandlung zwischen den außerhalb ihrer Wohnung Arbeitenden und jenen, die drinnen arbeiten oder gerade nicht arbeiten können. Das Ansteckungsrisiko am Arbeitsplatz wird also in Kauf genommen – wohl wissend, dass etwa in der Industrie, im Handwerk, am Bau, im medizinischen Bereich und in Großküchen Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen und dergleichen nur leidlich funktionieren.

Nun bahnt sich eine weitere Abweichung vom Prinzip der Gleichbehandlung an: Je länger die Einschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens dauern, desto offensichtlicher wird, dass sie auf Dauer nicht durchzuhalten sind, dass sie ebenso zu großem Schaden führen. In ökonomischer, aber auch in menschlicher Hinsicht.

Obwohl am Mittwoch im Bundestag eigentlich über die wirtschaftlichen und juristischen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise beraten wurde, war aus einigen Wortbeiträgen durchaus herauszuhören, wie die nächste Phase aussehen könnte. Dann dürften die Mitglieder dieser Gesellschaft nach ihrem Risiko differenziert werden, das eine Erkrankung an Covid-19 mit sich bringen würde. Heißt konkret und verkürzt: Jüngere dürften wieder raus. Alte und Menschen mit Vorerkrankungen sollten – oder eher: müssten – drinbleiben.

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Noch vor einer Woche schien ein solcher Gedanke unerhört. Egal, wen man nach dieser Ungleichbehandlung fragte – ob Politiker von CDU, CSU oder SPD, Linkspartei oder Grünen –, die Idee wurde verworfen unter dem Hinweis: Man müsse alle gleich behandeln. Inzwischen hat sich das etwas geändert. Unter vorgehaltener Hand halten immer mehr ein solches Vorgehen für denkbar. Am Mittwoch kündigte nun Kanzleramtschef Helge Braun gar bereits an, die aktuellen Restriktionen später als Erstes für junge und gesunde Menschen zu lockern. „Die nächste Phase lautet natürlich: Junge Menschen, die nicht zu den Risikogruppen gehören, dürfen wieder mehr auf die Straße“, sagte Braun in einem Fragevideo auf der Studenten-App Jodel.

Damit spricht Braun offen aus, worüber hinter den Kulissen bereits intensiv diskutiert wird. „Man könnte die Gesellschaft mit einem Teil wieder hochfahren und würde die Risikogruppen bitten, drinzubleiben“: So fasst ein CDU-Politiker die Debatte zusammen. Jüngere sind durch das Virus zwar gleichermaßen betroffen, ihre Gesundheit ist jedoch im Allgemeinen nicht in gleichem Maße bedroht wie die Älterer. Mit höherem Alter steigt das Risiko für schwere Verläufe deutlich an.

Das Durchschnittsalter an Corona gestorbener Menschen in Italien liegt bei fast 80 Jahren. So wird als ein möglicher Grund für die im Vergleich zu anderen Staaten noch relativ niedrige Todesrate in Deutschland auch angegeben, dass die Mehrzahl der – getesteten – Infizierten hierzulande der mittleren Altersgruppe angehört. In Italien ist dies anders. Es gibt zwar auch dort Todesfälle bei Menschen unter 50. Aber sie bilden eine Ausnahme, nicht selten liegen auch hier Vorerkrankungen vor. Darauf weist auch die Wissenschaft immer wieder hin.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte am Mittwoch im Bundestag: „Wir nutzen diese Zeit, um Konzepte nicht nur zu entwickeln, sondern auch für die Umsetzung vorzubereiten, wie wir schrittweise Beschränkungen wieder aufheben können.“ Und ergänzte: „Um besondere Gruppen schützen zu können.“ In einem „Zeit“-Interview wurde er noch konkreter: Gebraucht würden Konzepte, die speziell auf Ältere und chronisch Kranke zugeschnitten seien. „Wenn wir sie schützen, können wir gleichzeitig an anderen Stellen wieder normales Alltagsleben ermöglichen. Wir werden die Älteren also möglicherweise über mehrere Monate bitten müssen, ihre Kontakte stark einzuschränken und im Zweifel zu Hause zu bleiben.“

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte am Dienstag: „Wir müssen vor allem die Risikogruppen vor der Ansteckung mit dieser tödlichen Krankheit schützen.“ Auch in der Bundestagsdebatte am Mittwoch deuteten Redner an, dass nicht alle gleich behandelt werden müssten. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagte: „Die Erkrankung trifft möglicherweise einzelne Gruppen besonders.“

Ähnliche Töne schlagen auch andere inzwischen vermehrt an. Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) etwa forderte in einem Gastbeitrag für die „Rheinische Post“, „solidarisch, die Alten und Schwachen ganz gezielt vor einer lebensgefährlichen Infektion mit dem Virus zu schützen“. Je effektiver das gelinge, desto geringer seien die Freiheitseinschränkungen und der wirtschaftliche sowie soziale Schaden.

Dass die Debatte über nicht pauschale, sondern gezielte Schutzmaßnahmen anläuft, darauf machte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt implizit aufmerksam, indem sie ihre Rede im Bundestag am Mittwoch mit dem Hinweis beschloss: „Wir könnten jetzt anfangen, uns zu separieren: Die einen bleiben zu Hause, und die anderen machen Party im Park. Das ist nicht meine Vorstellung von Gesellschaft.“ Offenbar lehnt die Politikerin eine Ungleichbehandlung ab.

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Jung und sorglos

International hat eine Differenzierung zwischen Jung und Alt bereits stattgefunden. Die britische Regierung etwa hatte sich kurzzeitig an einer solchen versucht, inzwischen aber von allen eingefordert, zu Hause zu bleiben. Auch Argentinien und Kolumbien verhängten zunächst Teil-Ausgangsbeschränkungen, die sich am Alter orientierten. In beiden Ländern gilt aber inzwischen wieder der Gleichheitsgrundsatz.

Würde Deutschland einen ähnlichen Weg beschreiten, wäre dies aber doch nicht vollständig vergleichbar, da ja auf die allgemeine Ausgangsbeschränkung die Teil-Ausgangsbeschränkung folgen würde – und nicht umgekehrt. Spahn wies denn auch auf die Notwendigkeit hin, dies mit entsprechenden Maßnahmen zu flankieren. Dafür wären dann solidarische Lösungen zu finden, die Betroffene unterstützen, Versorgung und soziales Miteinander über neue Kanäle zu organisieren, so der Minister. Bis spätestens Ostern will er einen Vorschlag machen.

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Er scheint dabei die Unterstützung der wichtigsten Ratgeber der Regierung auf seiner Seite zu haben: der Virologen. Der Biochemiker und Virologe Alexander Kekulé sagte bezogen auf die jetzigen Ausgangsbeschränkungen: „Wir müssen uns auf jeden Fall für nach Ostern etwas anderes ausdenken, was einen ähnlichen Effekt hat.“ Er sprach von „neuen Formen der Isolation“, die man überdenken müsse. Der Wissenschaftler geht davon aus, dass wegen der vielen milden Verläufe viele Infektionen nicht auffielen. „Unsere Bevölkerung wird unauffällig durchimmunisiert, während wir uns alle aufregen.“ Je höher der Anteil immunisierter Menschen ist, desto geringer ist die Gefahr für die Risikogruppen: Das ist das Prinzip der Herdenimmunität.

Auch der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité sprach von einer „Nachsteuerung der Maßnahmen“ und insbesondere davon, einen „ganz besonderen Fokus auf den Schutz der Risikogruppen zu legen, auf die älteren Leute pauschal und dann auf die Risikopatienten innerhalb der jüngeren Leute“. Auf deren Schutz hin könnten die Maßnahmen des Gesundheitssystems stärker gesteuert werden. Einer gezielten Infektion jüngerer Menschen erteilte Drosten aber eine klare Absage.

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