Virtuelles Reisen in der Corona-Krise: Aufbruch in endliche Weiten

Die Reise beginnt, wo auch sonst Reisen häufig beginnen: am Bahnhof. Weniger normal – aber was ist in diesen Tagen schon normal? – ist das Gepäck. Ich bekomme es am Parkplatz überreicht in Form zweier Kartons, von einem jungen Mann aus dem Kofferraum eines BMW. Im einen befindet sich ein leistungsstarker Laptop, im anderen eine Virtual-Reality-Brille.

Denn die eigene Wohnung fühlt sich jeden Tag ein bisschen enger an. Da probiert man auch mal Sachen aus, die einem bis vor Kurzem noch entweder altmodisch vorkamen oder wie Zukunftsmusik. Virtuell zu reisen, über Datenleitungen, während der Körper zu Hause bleibt, gehört in die zweite Kategorie.

Vor einigen Jahren sah es noch so aus, als würden das möglicherweise bald massenhaft Menschen tun. Eine neue Generation von VR-Brillen kam auf den Markt, fast alle namhaften Tech-Konzerne investierten in die Technologie, keiner wollte den Anschluss verpassen. Inzwischen hat sich der Hype gelegt, ohne dass die Technologie verschwunden wäre. Die meisten Menschen gucken aber noch immer lieber durch zweidimensionale Bildschirme. Und wenn sie sich den Kölner Dom anschauen wollen, dann fahren sie eben zum Kölner Dom. Nun ja, bis vor wenigen Wochen war das jedenfalls so.

Die Mauern des Kölner Doms sehen ein bisschen aus, als bestünden sie aus Zucker

Jetzt stehe ich virtuell auf dessen Hochaltar, ohne mein Wohnzimmer verlassen zu haben, und frage mich, ob das nicht doch alles eine total doofe Idee war. Nirgendwo ist eine Menschenseele zu sehen. Vor mir schweben die virtuellen Abbilder der 3-D-Controller, längliche Griffe mit einem Bogen am Ende, die ich real in Händen halte.

Mit ihnen visiert man einen Punkt auf dem Boden an und teleportiert sich dann per Tastendruck dorthin. Die gotischen Mauern und die Kirchenfenster sehen ein bisschen matschig und verflacht aus, so als bestünden sie aus Zucker und seien nass geworden. Der virtuelle Nachbau, so war im Internet zu lesen, setze sich aus einer Unzahl von Fotos zusammen, die Algorithmen auf ein unsichtbares digitales Gerüst des Gebäudes gebastelt haben. Er ist also gewissermaßen ein begehbares Fotoalbum. Gespenstische Gefühle machen sich breit. Als spaziere man statt durch den sprichwörtlich zu Tode fotografierten Dom nun durch dessen Leichnam.

Sara Lisa, VR-Schamanin

Sara Lisa, VR-Schamanin

Flucht vor den Trollen: Sara Lisa Vogl bezeichnet sich als Virtual Reality-Schamanin und führt Interessierte durch künstliche Welten.

(Foto: Norman Briewig)

Dann vibriert das Handy in der Hosentasche. Das ist das Signal. Es stammt von der Reiseführerin auf diesem Trip, einer 29 Jahre jungen „VR Schamanin“, wie Sara Lisa Vogl sich selbst bezeichnet. Sie ist Expertin für virtuelle und digital erweiterte Realitäten, berät unter anderem das World Economic Forum und die Biennale in Venedig. Gelegentlich leitet sie auch Neulinge bei ihren Trips in die virtuelle Realität an. Die Moderatorin Dunja Hayali verbrachte einmal 24 Stunden in der virtuellen Realität – in Vogls Berliner Wohnung. Die Schamanin hatte ihr für die Nacht eine virtuelle Höhle gebaut und in der Realität ein Bett gemacht, reichte ihr Getränke, die sie wegen der Brille nicht sehen konnte. Sogar auf dem Klo blieb die Brille auf.

Wenn der Troll im virtuellen Körper neben einem steht, wirkt er bedrohlicher

Der Kölner Dom war nur die erste Station, um den Besucher mit etwas Bekanntem abzuholen; nun soll es tiefer in den Kaninchenbau hinunter gehen. Man möge sie bei einer „Danceparty“ treffen, schreibt Vogl. Virtuell, versteht sich.

Dort angekommen, geht mein Blick durch eine Glasfront hinaus in eine Comicwelt. Hochhäuser sind zu sehen, die in lichter Höhe aus einem Nebel aufragen. Eine Musikanlage spielt Charts-Musik. Vogl ist da, sonst niemand. Ihr künstlicher Körper – ihr „Avatar“, wie es hier heißt – ist ein schwebender, feminin aussehender Roboter. Sie habe diesen informellen Raum für ein Treffen gewählt, weil wir uns ja noch nicht so gut kennen würden, sagt sie. Zwischen den „Experiences“ trifft man sie in Räumen wie diesem, um sich erklären zu lassen, was einen erwartet.

Im kalifornischen Death Valley hebe ich mithilfe der Controller virtuelle Kassetten vom Boden auf, stecke sie in einen Kassettenrekorder, um Vorträge über die Stille und das Licht in der Wüste vorgespielt zu bekommen, beobachte kurz darauf kämpfende Dinosaurier, wohne einer virtuellen Aufführung des Cirque du Soleil bei. Bewegen darf man sich während der Show nicht, nur den Kopf in alle Richtungen drehen. Ein Priester schwenkt geheimnisvoll das Weihrauchfass, während links und rechts Tänzer mit Pirouetten in dunkles Wasser springen.

Im Museum of Other Realities stellt die internationale Szene der VR-Künstler ihre Werke aus. Das virtuelle Gebäude erinnert an das Guggenheim Museum in New York, abzüglich physikalischer Limitierungen: monochrom graue Wände in Computergrafik, die in lichter Höhe runde und schräge Verbindungen eingehen, schwebende Wendeltreppen, dazwischen, geheimnisvoll und oft grellbunt leuchtend, die Werke sowie Erläuterungstafeln. Eine der Skulpturen sieht aus wie eine riesige, schwerelose Viruszelle.

Irgendwann poppt eine Nachricht auf. Ein „Robin“ lädt dazu ein, sich seiner Gruppe anzuschließen. Er ist einer der Kuratoren, ein „Thorsten“ ist auch da. Die beiden haben während des Rundgangs durch das Museum etwas zu besprechen. Thorsten arbeitet, so sagt er auf Englisch, für „A Maze Berlin“, ein Festival für avantgardistische Computerspiele und Medienkunst. Stattfinden soll es im Juli in einer ehemaligen Lagerhalle in Ostberlin, aber wegen der Corona-Krise schaut sich Thorsten gerade nach einer Alternative um. „Klar, ihr könnt das gern hier drin machen“, sagt Robin, während er durch eins der Exponate führt, einen verschneiten, expressionistisch aussehenden Wald.

So ungefähr muss Jaron Lanier, ein Internetguru mit Dreadlocks, sich das vorgestellt haben, als er 1987 den Begriff Virtual Reality prägte: Das Internet als einen Raum, den man tatsächlich betreten kann, in dem alle irdischen Gesetze aufgehoben sind, sodass auch der Geist seine Fesseln verliert. Ein Raum, in dem man ganz neue Erfahrungen macht, „Experiences“.

Nach dem Museum fliege ich noch ein bisschen durch eine Traumwelt, in jeder Hand eine durchsichtige Rakete. Gräser biegen sich, bunte Lichter tanzen dazwischen. Irgendwann wird mir schwindelig.

Die Schamanin wartet auf einem winzigen Planeten, in einer Höhle bei einem Lagerfeuer, wie sich das für Treffen mit Schamanen gehört. Diesmal ist ihr Avatar ein kleines Comic-Mädchen mit einer Eulenmütze. Neben dem Feuer schwebt eine Menüleiste, über die man dessen Lautstärke verändern kann. Man stelle sich das mal übertragen auf eine reale Reise vor: Wenn einem das Lagerfeuer zu laut ist, stellt man das Knacken einfach ab. Verbrennen kann man sich nicht, Rauch hat man auch keinen im Gesicht.

Man bleibt also innerhalb eines sicheren Raumes, alles Störende, Anstrengende lässt sich ausblenden. Ähnlich, wie Virtual Reality vor der Corona-Krise in der Reiseindustrie eingesetzt wurde. Auf Kreuzfahrten konnte man sich bei „virtuellen Landgängen“ auf Deck vor Venedig den Markusplatz angucken, der ja in echt sowieso viel zu voll und zu teuer ist. Reiseveranstalter setzten Kunden die Brillen auf, damit sie sich vor der Buchung schon mal in ihrem Hotelzimmer umgucken konnten. Bloß keine bösen Überraschungen.

Für solche sorgt auf diesem Trip die Schamanin. Als im Eingang der Höhle plötzlich ein großer, grauer Kopf mit leuchtenden Augen auftaucht, sagt Vogl: „Hier sind eine Menge Trolle unterwegs.“ So nennt man Nutzer im Internet, die Spaß daran haben, andere zu stören und zu beleidigen. Das ist schon im klassischen Internet oft extrem ärgerlich. Wenn ein „Troll“ allerdings neben einem steht, mit einem virtuellen Körper, statt nur schreibend pöbeln zu können, wirkt die Belästigung ungleich bedrohlicher. Also erklärt die Schamanin schnell, wo ich hinklicken muss, um ihn unsichtbar zu machen. Dann ist Ruhe, nur noch das knisternde Feuer ist zu hören, in gewünschter Lautstärke.

„Die Virtual Reality ist eine kraftvolle, Erfahrung, mit der man, weil sie auch traumatisch sein kann, vorsichtig umgehen sollte“, findet Sara Lisa Vogl. Deshalb sei es besser, am Anfang jemanden dabei zu haben, deshalb mache sie auch diese „schamanischen“ Führungen. Sie verdient sich damit zu ihrem Job als VR-Entwicklerin ein bisschen was dazu. VR erlaube es einem, in neue Welten, vor allem aber in neue Körper versetzt zu werden, sagt sie. So erlebt man in der Experience „Traveling While Black“, wie es ist, sich als Afroamerikaner in einer rassistischen Umgebung zu bewegen. Oder in „Notes on Blindness“, wie es sich anfühlt, allmählich zu erblinden. „Du wirst automatisch entfremdet von deinem original type„, sagt die Schamanin. Urlaub vom eigenen Körper sozusagen.

Erholsam ist das nur bedingt. Nach ein paar Stunden in der Virtual Reality brummt mir der Kopf. Die echte Welt sieht seltsam unwirklich, die Hände sehen merkwürdig echt aus. Beim Ausloggen fällt mir in der virtuellen Bibliothek noch ein VR-Spiel ins Auge, das „Vacation Simulator“ heißt. Darin kann man einen der knuffigen Bots spielen, die wie schwebende Computerbildschirme mit Comic-Gesichtern aussehen und in ferner Zukunft die Erde übernommen haben. Jetzt aber ahmen sie typisch menschliche Aktivitäten nach. Irgendwohin fahren, wo es schön ist. Eis essen, Volleyball spielen, angeln. Alles möglichst erholungseffizient, denn Roboter lieben Effizienz. „Relaaaaax“, sagt mit blecherner Stimme der Bot, der mir das Menschsein beibringen will. Damals sei ein Strand „der effizienteste Ort“ gewesen, um die Erholung zu beginnen. Hach, denkt man sich, am virtuellen Meer stehend, was waren das doch damals für Zeiten!

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*