In der historischen Krise wird das deutsche Modell zum Exportschlager

Volkswirtschaften weltweit haben sich in der Corona-Krise Deutschlands Modell der Kurzarbeit zum Vorbild genommen. Das Instrument, das seit der Finanzkrise 2008/2009 als deutsche Erfolgsgeschichte im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit gilt, wird in ähnlicher Weise inzwischen in vielen anderen Ländern genutzt. Dort ist, das zeigt der aktuelle Beschäftigungsausblick der Industrieländerorganisation OECD, die Arbeitslosigkeit bislang vergleichsweise moderat angestiegen.

Laut der OECD-Analyse ist die Arbeitslosenquote im Schnitt der 37 OECD-Mitgliedstaaten im Zuge der Krise stark gestiegen – von 5,3 Prozent im Januar auf 8,4 Prozent im Mai. Im Fall der günstigsten Entwicklung könnte die OECD-weite Arbeitslosenquote Ende 2020 9,4 Prozent erreichen – den höchsten Wert seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. In Deutschland hingegen fällt der Anstieg deutlich geringer aus. Noch niedriger ist er in Frankreich. Auch andere europäische Länder verzeichnen unterdurchschnittliche Zuwächse.

„Während in Kanada und den USA die Arbeitslosigkeit massiv angestiegen ist, hat die Kurzarbeit das in weiten Teilen Europas und speziell in Deutschland bislang verhindert“, sagt OECD-Arbeitsmarktökonom Sebastian Königs. „Das Modell ist zum deutschen Exportschlager geworden.“

15 Staaten haben Kurzarbeitsmodelle eingeführt

Tatsächlich zeigt die Analyse, dass einige Länder mit vergleichsweise geringen Anstiegen derzeit in großem Stil auf Arbeitszeitverkürzung setzen. Demnach sind in Frankreich, Italien und Deutschland besonders viele Beschäftigte von derlei Maßnahmen betroffen. Aktuellste Daten für Deutschland stammen vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) und weisen für Mai einen Anteil von 20 Prozent aller Beschäftigten aus.

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Die Arbeitszeitverkürzungsmodelle variieren, aber gemeinsam ist ihnen der Grundsatz: Beschäftigte bleiben im Unternehmen, arbeiten aber weniger und bekommen dafür einen Lohnausgleich. Laut OECD haben 15 Staaten solche Systeme im Zuge der Corona-Krise neu eingeführt, darunter Australien, Neuseeland und Großbritannien. „Außerdem gibt es Länder, die ihre Systeme aufgrund der positiven deutschen Erfahrungen grundlegend verändert haben“, sagt Königs.

Als Beispiel nennt er Frankreich. Die Franzosen hätten zuvor ein Modell praktiziert, das nur von wenigen Arbeitgebern genutzt wurde. In der Corona-Krise hätten die Franzosen das System aber deutlich großzügiger gestaltet. „Deutschland hat hier eindeutig als Vorbild gedient“, sagt der OECD-Experte. Als zentrale Änderung hebt Königs hervor, dass die Kosten für Arbeitgeber massiv reduziert wurden und sie keinerlei Anteil am Kurzarbeitergeld oder den Sozialabgaben für nicht geleistete Stunden übernehmen mussten.

Krise trifft Niedrigverdiener am härtesten

Doch auch in Deutschland hat das Kurzarbeitersystem Schwächen. „Die Krise trifft die Schwachen in Deutschland besonders hart“, sagt Königs. Er meint damit die Beschäftigten im Niedriglohnsektor, von denen es in der Bundesrepublik besonders viele gibt. Für sie fällt das Kurzarbeitergeld oft sehr gering aus.

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Eine aktuelle Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass rund 7,7 Millionen Menschen und damit mehr als ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland im Niedriglohnsektor arbeiten. Per definitionem trifft das auf alle zu, die weniger als 11,40 Euro brutto pro Stunde verdienen. Seit den 1990er-Jahren ist der Niedriglohnsektor hierzulande demnach um gut 60 Prozent gewachsen. In keinem anderen Land nehme er ein solches Ausmaß an, heißt es.

Für viele bedeutet die Krise laut Königs nun schmerzhafte Einbußen. Denn Kurzarbeiter bekommen in Deutschland zunächst 60 (mit mindestens einem Kind 67) Prozent des ausgefallenen Nettolohns – für die, die ohnehin wenig verdienen, kann das Hartz IV bedeuten. Dauert die Kurzarbeit länger, können die Bezüge auf bis zu 87 Prozent ansteigen. Minijobber, die nach aktueller Regelung bis zu 450 Euro im Monat verdienen dürfen, profitieren gar nicht von diesem Sicherheitsnetz. Da sie keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen, haben sie auch keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld.

Finanzierungsprobleme auch in Deutschland

OECD-Ökonom Königs zufolge sind andere Länder beim Kurzarbeitergeld großzügiger. Als Beispiel nennt er erneut Frankreich. Hier habe die Regierung einen Sockel eingezogen: „Niedrigverdiener bekommen in Kurzarbeit automatisch den vollen Mindestlohn“, sagt Königs. „So ist gewährleistet, dass sie in der Krise ein gutes Auskommen haben.“

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Er verweist allerdings auch darauf, dass noch offen sei, welches Modell sich am Ende als besser herausstellt. Denn bei sehr großzügigen Systemen kann es bald zu Finanzierungsproblemen kommen. Selbst im deutschen System ist absehbar, dass die Rücklage der BA nicht reichen wird und der Bund Schätzungen zufolge mit fast fünf Milliarden Euro einspringen muss.

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) verweist zudem darauf, dass der bloße Blick auf die Ersatzrate zu kurz greife. Zwischen den Ländern unterscheide sich nicht nur die Leistungshöhe, sondern auch weitere Merkmale. So beruhten zum Beispiel die Regelungen in Dänemark nicht auf einer gesetzlichen, sondern einer tarifvertraglichen Basis. „Damit entziehen sie sich einem Vergleich, weil allein für Deutschland entsprechende Regeln aus Zehntausenden Tarifverträgen entgegenzustellen wären“, heißt es im IW-Kurzbericht „Kurzarbeit in Europa“. In Schweden werde maximal ein Arbeitsausfall von 60 Prozent der üblicherweise gearbeiteten Stunden gefördert.

Zudem legten einige Länder den Bruttolohn zugrunde, Deutschland hingegen den Nettolohn. Der Bruttolohn führe in der Regel zu höheren Leistungen. In den meisten dieser Länder müsse das Kurzarbeitergeld aber wie der normale Lohn versteuert werden, sodass die resultierende Nettoleistung geringer sei. Außerdem sei die Bezugsdauer von bis zu zwölf Monaten in Deutschland vergleichsweise lang.

Angst vor der zweiten Welle

Noch zeigen muss sich, wie erfolgreich die Kurzarbeit am Ende tatsächlich ist. In den Vereinigten Staaten verloren zwar viele Menschen ihren Job, inzwischen kehrten laut OECD-Analyse aber auch viele freigestellte Kräfte an ihren Arbeitsplatz zurück. In den Ländern mit Kurzarbeit hingegen könnte sich ein gegenläufiger Effekt zeigen.

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„Selbst wenn nur ein kleiner Teil der Unternehmen in Schieflage gerät, wird die Arbeitslosigkeit ansteigen“, sagt Königs. Falls es nicht zu einer zweiten Pandemiewelle kommt, rechnet die OECD für Deutschland mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote auf rund 4,5 Prozent. Sollte es Ende des Jahres doch zu einer solchen zweiten Welle kommen, ist demnach ein weiterer Anstieg bis ins Jahr 2021 zu erwarten. „In beiden Fällen handelt es sich um einen merklichen, aber im internationalen Vergleich sehr moderaten Anstieg“, sagt Königs.

Laut Daten der Bundesagentur für Arbeit waren im Juni in Deutschland 2,85 Millionen Menschen arbeitslos, das ist ein Anstieg von 40.000 im Vergleich zum Mai. Die Arbeitslosenquote steigt um einen Zehntelprozentpunkt auf 6,2 Prozent. Die OECD-Werte weichen davon etwas ab, da eine international harmonisierte Definition der Arbeitslosenrate benutzt wird. Die Zahl der Kurzarbeiter lag Hochrechnungen zufolge im April bei 6,83 Millionen – das ist der höchste jemals erreichte Stand in der Bundesrepublik. Für Mai liegt die vorläufige Schätzung bei nur noch sechs Millionen.

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