Merkel überrascht Europa mit einer klaren Ansage

Die Besucherin aus Berlin überzieht souverän. Die Redezeiten im Europäischen Parlament sind knapp bemessen, und wenn Abgeordnete zu lange reden, schreitet der Sitzungsleiter in der Regel gnadenlos ein. Nicht jedoch bei Angela Merkel.

Zehn Minuten hatte sie am Mittwochnachmittag, um das Programm der deutschen Ratspräsidentschaft vorzustellen, tatsächlich sprach sie mehr als doppelt so lang. Trotzdem wird ihr Mikro nicht abgestellt. Merkel ist Merkel – die einzige aktive Politikerin von globalem Format, die Europa derzeit hat. Und so darf sie reden.

In ihrer fast 25 Minuten langen Ansprache skizziert Merkel ihre Vision für das kommende halbe Jahr. Die EU in ihrer jetzigen Form retten und den rasch alternden Kontinent wirtschaftlich modernisieren – diese ambitionierte Agenda zwingt die Corona-Krise der Bundeskanzlerin auf. Das kann eine Bürde sein oder die historische Chance, ein europäisches Vermächtnis zu hinterlassen.

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„Uns allen ist bewusst, dass mein heutiger Besuch vor dem Hintergrund der größten Bewährungsprobe in der Geschichte der Europäischen Union stattfindet“, sagte sie gleich zu Beginn ihrer Rede vor dem Plenum, in dem wegen der Abstandsregeln nur jeder dritte Platz besetzt war. Anders als im Bundestag trägt Merkel hier wie alle Anwesenden einen Mundschutz, den sie nur für ihre Ansprache abnimmt.

Europa geeint durch die Krise bringen und die wirtschaftliche Erholung anstoßen: Das wird die zentrale Herausforderung der deutschen Präsidentschaft sein. Europa gemeinsam wieder stark machen, das sei das Leitmotiv, sagte Merkel.

Zentrales Element dafür ist das geplante EU-Konjunkturprogramm: Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron haben vorgeschlagen, 500 Milliarden Euro in den Klimaschutz und die Digitalisierung zu investieren. Das Programm, das die EU-Kommission um eigene Ideen ergänzt hat, könnte die europäische Wirtschaft nachhaltig modernisieren, den antieuropäischen Populisten in Südeuropa den Nährboden entziehen und den Kontinent einen. Der Plan könnte Merkels europäisches Vermächtnis werden.

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Quelle: WELT

Aber der Weg dorthin ist schwierig. Auf europäischer Ebene sind sich zwar alle Regierungen einig, dass die Milliarden nötig sind, aber wie die Hilfe konkret aussehen soll: Da liegen Nord und Süd, Ost und West noch weit auseinander.

Auch zu Hause könnte das Vorhaben für Merkel zum Bumerang werden. Die Mehrheit der Deutschen unterstützt zwar derzeit den EU-Rettungsplan. Noch spüren die meisten Deutschen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise nicht. Das kann sich aber ändern, und dann könnte die öffentliche Meinung kippen. Wie schnell das gehen kann, musste Merkel in der Flüchtlingskrise erfahren.

Sie appelliert deshalb auch an alle Kritiker des Programms und wirbt um Großzügigkeit: „Allein kommt niemand durch diese Krise. Wir alle sind verwundbar“, mahnt sie und wirbt: „Europäische Solidarität ist nicht einfach nur eine humane Geste, sondern eine nachhaltige Investition.“

Der Klimaschutz, die Digitalisierung und Europas Platz in der Welt sollten ursprünglich die Kernthemen dieser Präsidentschaft werden. Darum werde sich die deutsche Ratspräsidentschaft trotz Corona kümmern, verspricht Merkel.

Klare Ansage an Polen und Ungarn

Und sie überraschte die Anwesenden: Ein Thema nämlich zog sich wie ein roter Faden durch ihre Rede: ein Plädoyer für Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und europäische Werte. „Eine Demokratie, in der oppositionelle Stimmen unerwünscht sind, eine Demokratie, in der soziale oder kulturelle und religiöse Vielfalt unerwünscht ist, ist keine“, sagte Merkel.

Das derart zu betonen, ist eine klare Ansage an EU-Mitglieder wie Polen und Ungarn, wo Grundrechte verletzt werden und die Unabhängigkeit der Gerichte in Gefahr ist. Merkel weiß, dass dem Parlament dieses Thema überaus wichtig ist. Mit ihrem klaren Bekenntnis tritt die Kanzlerin aber auch Spekulationen entgegen, dass Deutschland den Schutz der Rechtsstaatlichkeit während der Ratspräsidentschaft hintanstellen könnte. Merkels Rede war ein kraftvolles Dementi.

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