Zweite Welle im Vorzeigeland – Was wir von Israel lernen können

In letzter Zeit nahm man es mit den Geboten nicht mehr so genau. Eigentlich gilt in Israel Masken- und Distanzgebot. Aber oft baumelten Mund- und Nasenschutz lässig unterm Kinn. In Restaurants kontrollierten Kellner zwar noch die Temperatur ihrer Gäste – setzten diese dann aber an überfüllte Tische. Spätestens am Strand hielt sich dann niemand mehr an den empfohlenen Mindestabstand von zwei Metern zum Nachbarn.

Soziale Distanz, das schien vorbei. „Kehrt wieder zur Normalität zurück, geht einen Kaffee trinken, ein Bier – habt Spaß“, ermutigte Premierminister Benjamin Netanjahu seine Bürger. Die hatten sich lange vorbildlich verhalten, einen der ersten und auch härtesten Lockdowns mitgemacht.

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Corona in Israel

In dieser Zeit hatte sich niemand weiter als 100 Meter von zu Hause entfernen dürfen. Das Militär hatte Strandhotels als Quarantänestationen beschlagnahmt; der Inlandsgeheimdienst war von Terroristen- auf Infiziertenjagd umgeschwenkt. Die gemeldeten Sars-CoV-2-Neuinfektionen waren schließlich auf bis zu unter zehn pro Tag gesunken. Israel wurde als Erfolgsmodell der Corona-Bekämpfung gefeiert.

Jetzt droht es das erste Land zu werden, das wieder in den Lockdown zurückkehren muss. Die Gesundheitsbehörden zählen bei knapp neun Millionen Einwohnern über 1500 neue Fälle pro Tag. Und die Bürger erleben ein Déjà-vu: Bars, Clubs, Festhallen, Schwimmbäder und Fitnessstudios müssen schließen. In Restaurants dürfen nur noch 20 Gäste sitzen. In Gebetshäusern sollen maximal 19 Menschen zusammenfinden. Busse dürfen nicht mehr als 20 Passagiere transportieren. Besonders betroffene Städte werden abgeriegelt.

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Die Regierung hat ein Notstandsgesetz verabschiedet, das es ihr ermöglicht, Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung im Eilverfahren ohne parlamentarische Genehmigung zu beschließen. Man sei nur noch einen Schritt vom vollständigen Lockdown entfernt, soll Netanjahu seine Minister in einer Kabinettssitzung gewarnt haben.

„Die Regierung hat die Kontrolle über die Pandemie verloren“, sagt Eli Waxman. Waxman ist der höchste Berater der Regierung. Er sitzt einem Komitee von Wissenschaftlern vor, das die Exit-Strategie ausgearbeitet hat. Ab Ende April begann Israel stufenweise mit der Wiederöffnung. Zwei Monate später sitzt Waxman in eiligen Besprechungen zur Schließung des Landes.

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Dass die zweite Welle mit solcher Wucht komme, habe zwei Gründe, sagt der oberste Berater. Der Erste: „Die Maßnahmen wurden zu schnell aufgehoben.“ Die Regierung habe dem öffentlichen Druck nachgegeben und wider besseres Wissens gelockert.

Ursprung der vielen Neuinfektionen seien die Schulen gewesen. Sie hatten Anfang Mai zunächst in kleinen Gruppen den Unterricht wieder aufgenommen. Bereits zwei Wochen später kehrten sie zur normalen Klassenstärke zurück. Als dann eine Hitzewelle übers Land rollte, setzte der Gesundheitsminister die Maskenpflicht zeitweise aus. Die Folge: Allein an einem einzigen Gymnasium in Jerusalem wurden 130 Schüler und Lehrer positiv getestet. Hunderte Schulen mussten wieder schließen. Doch da war das Virus bereits weitergewandert.

Corona-Infektion in den eigenen vier Wänden

Israel zählt derzeit 343 Tote und mehr als 32.000 Fälle. Für knapp 20.000 davon hat das Gesundheitsministerium Informationen veröffentlicht. Demnach ist bei mehr als der Hälfte die Infektionsursache unbekannt. Der häufigste Ort der Ansteckung der restlichen Fälle sind die eigenen vier Wände. Sprich: Ein Familienmitglied oder Besucher hat die Krankheit mit nach Hause gebracht.

„Wir haben es nicht geschafft, die Infektionsketten zu unterbrechen“, sagt Waxman. Das sei der zweite Grund für den neuen Ausbruch: „Die Regierung hat kein effektives System, um Kontaktpersonen von Erkrankten schnell zu ermitteln und zu isolieren.“

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Corona-Tracking

Ist ausgerechnet die Hightech-Nation mit ihren Start-ups und den legendären Geheimdiensten an der Aufgabe gescheitert, Infizierte ausfindig zu machen?

Die Corona-App „Schutzschild“ sollte von den Gesundheitsbehörden mit den Daten von Corona-Infizierten gespeist werden, insbesondere mit deren Aufenthaltsorten der letzten 14 Tage. Diese sollten dann mit den Bewegungsdaten der App-Nutzer abgeglichen und potenziell Erkrankte informiert werden. Die App kann freiwillig heruntergeladen werden, doch das haben nicht genügend Leute getan. Außerdem funktioniert sie offenbar nicht richtig.

Gut für Jagd auf Terroristen, schlecht für Corona

Auch der Inlandsgeheimdienst Schin Bet hat offenbar technische Probleme mit der Ortung von Infizierten. Zwar wurde ihm die Erlaubnis erteilt, die Handys von Erkrankten zu tracken, Bewegungsprofile zu erstellen und so die Kontaktpersonen ausfindig zu machen und in Quarantäne zu schicken.

Aber: Der Schin Bet habe eine Fehlerquote von zwölf Prozent und weniger als drei von zehn positiven Fällen erkannt, analysierte das israelische Technologie-Institut. Besonders ungenau sei die Technik, wenn sich Zielpersonen in großen Gebäuden aufhielten. So kam es, dass viele Menschen per SMS in Quarantäne beordert wurden, mit dem Hinweis, dass sie Kontakt mit einem Covid-19-Kranken gehabt hätten – obwohl sie in der besagten Zeit allein zu Hause gewesen waren.

Quelle: Infografik WELT

Nadav Argaman, der Geheimdienstchef selbst, sagt, dass die Technologie für die Verfolgung von Terroristen nicht für den massenhaften Einsatz geeignet sei. Trotzdem wurde sein Tracking-Mandat nun erneuert.

Den Großteil der Corona-Infizierten haben nicht Apps und Agenten ermittelt, sondern Krankenschwestern am Telefon. Für das ganze Land waren aber nur 27 Krankenschwestern zu diesem Dienst eingeteilt. Da verwundert es nicht, was Gabi Barbash erzählt, Professor für Epidemiologie und früherer Generaldirektor des Gesundheitsministeriums: „Ich habe einige Bekannte, die positiv getestet wurden. Aber niemand rief sie an, um nach ihren Kontaktpersonen zu fragen.“

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Eine wichtige Lehre: Technologie allein reiche nicht, sagt Barbash. Es müsse einen Verantwortlichen geben, der alle Informationen zusammenträgt, die Akteure vernetzt, Entscheidungen trifft und dafür sorgt, dass diese auch umgesetzt werden. „Diese Epidemie zu managen ist eine komplexe Aufgabe, der das Gesundheitsministerium nicht gewachsen ist.“

Die Armee, urteilen beide Experten, wäre geeigneter für die Krisenkoordination. Aber die Regierung habe ihr nicht die nötigen Befugnisse übertragen. Kritiker sagen, das ginge auf Netanjahu zurück, der dem Verteidigungsminister – erst sein Konkurrent Naftali Bennett, jetzt sein ungeliebter Koalitionspartner Benny Gantz – nicht die Chance überlassen wollte, sich als Krisenmanager zu profilieren. Nun muss Verteidigungsminister Benny Gantz auch noch selbst in Quarantäne, nach einem möglichen Kontakt mit einem Corona-Infizierten.

Die Unternehmen sind wütend

Das Gesundheitsministerium versucht nun hektisch, Studenten für die Recherche von Kontaktpersonen zu gewinnen. Sollte die Infektionskurve nicht bald wieder abflachen, drohe das Gesundheitssystem zusammenzubrechen, warnt Regierungsberater Waxman. Der Verlauf dieser Woche werde darüber entscheiden, ob Israel erneut den Lockdown ausrufen muss.

Für die Wirtschaft des Landes wäre das fatal. Bereits mehr als 20 Prozent der Bürger sind arbeitslos. Die nationale Fluglinie El Al steht kurz vor der Insolvenz. Unzählige Geschäftsinhaber und Gaststätten fürchten den Bankrott.

In einer Zoom-Konferenz mit Benjamin Netanjahu ließen Geschäftsleute ihrer Wut freien Lauf. „Wir sind am Ende“, sagte eine Unternehmerin. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Tage finanzielle Unterstützung von der Regierung bekäme, werde ihre Firma pleitegehen. „Ich beschäftigte 150 Arbeiter. Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll.“

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