Risiko im Ruhestand – Rentnern droht der Pflege-Wucher

Es gibt Briefe, die bekommt man gern, und solche, die man gleich wieder vergisst. Und dann gibt es noch solche Schreiben wie die, welche die Eheleute Z. aus Ostwestfalen von ihrer privaten Pflegetagegeldversicherung bekommen haben.

Für den IT-Experten und die pensionierte Beamtin waren sie ein Schock: Der Monatsbeitrag von Herrn Z. werde ab Mai von 109,97 Euro auf 174,74 Euro angehoben, kündigte die zum Sparkassenverbund gehörende Union Krankenversicherung (UKV) an – ein Plus von fast 60 Prozent. Damit nicht genug. Frau Z. werde statt 75,88 Euro künftig 130,26 Euro zu zahlen haben, ein Sprung um knapp 72 Prozent.

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Pflegeanspruch

Öffentlich wollen sich die beiden mit dem Versicherer nicht anlegen, aus Angst vor weiteren Nachteilen. Deshalb möchten sie ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Mit ihrem Problem aber stehen sie nicht allein da.

„Unsere Versicherungsberater erreichen derzeit Dutzende Anfragen von Verbrauchern, die von starken Prämienerhöhungen ihrer privaten, freiwilligen Pflegezusatzversicherung betroffen sind“, sagt Rita Reichard, Rechtsanwältin und Versicherungs-Expertin der Verbraucherzentrale NRW. Kollegen aus anderen Bundesländern bestätigten diesen Trend.

Gesetzliche Pflegepflichtversicherung zahlt nur 2000 Euro

Dank einer Gesetzesänderung haben Pflegebedürftige seit einigen Jahren deutlich früher und mehr Ansprüche auf Leistungen. Das entlastet deren Angehörige. Den Versicherern wird das aber zunehmend zu teuer. So stieg die Zahl der Leistungsempfänger von 2,8 Millionen im Jahr 2016 auf 3,7 Millionen in 2018.

Gleichzeitig müssen die Anbieter auch deutlich mehr und länger für die Pflege eines einzelnen Patienten zahlen. Diese zusätzlichen Kosten geben sie nun in Form von kräftigen Prämienerhöhungen an ihre Kunden weiter.

Quelle: Infografik WELT

Für manchen Rentner sind die Teuerungen nicht bezahlbar. Und Menschen, die mit dem Gedanken spielen, eine Pflegezusatzversicherung abzuschließen, dürften die teils drastischen Prämienerhöhungen ebenfalls abschrecken.

Dabei wäre es eigentlich sinnvoll, wenn sich mehr Deutsche für den Pflegefall absicherten und so die finanzielle Lücke schließen, die der Gesetzgeber lässt.

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„Eine Pflegezusatzversicherung ist wichtiger als eine kapitalbildende Lebensversicherung“, sagt Constantin Papaspyratos vom Bund der Versicherten. Muss ein pflegebedürftiger Mensch in ein Heim, kann dies zwischen 2500 und 4000 Euro im Monat kosten.

Die gesetzliche Pflegepflichtversicherung zahlt davon aber nur etwa 2000 Euro, in vielen Fällen sogar weniger. Das ist eine große Belastung für viele betroffene Menschen und auch für ihre Angehörigen.

Vereinzelt sogar mehr als verdoppelt

Der zusätzliche Schutz ist aufgrund der jüngsten Erhöhungen jedoch deutlich teurer geworden. Insbesondere Kunden der UKV und der ebenfalls zur Sparkassen-Finanzgruppe gehörenden Bayerischen Beamtenkrankenkasse (BBKK) kommen nach Angaben der Verbraucherschützer häufig in die Beratungsstellen.

„Wir konnten die Beiträge in den vergangenen zwei Jahrzehnten sehr stabil halten, auch im Jahr 2019 hatten wir keinerlei Anpassungen“, sagt ein Sprecher der beiden Anbieter. „2020 mussten wir, entsprechend der gesetzlichen Vorgaben, die Beiträge anpassen.“

Laut UKV und BBKK ist die Mehrzahl der Kunden jedoch nur von überschaubaren Erhöhungen betroffen. Auch Policen der Versicherungen DKV und Central beschäftigten die Verbraucherschützer.

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Beiträge senken

Die DKV erklärt dazu, sie habe 82 Millionen Euro eingesetzt, um die Beitragserhöhungen für ihre Kunden auf maximal 29,9 Prozent zu begrenzen. Bei der Central stiegen die Beiträge in den Pflegetagegeld-Tarifen durchschnittlich um rund 20 Prozent.

Ohne den Anbieter zu nennen, halten Verbraucherschützer dem entgegen, der Beitrag habe sich vereinzelt sogar mehr als verdoppelt. Besonders stark seien die Erhöhungen bei Älteren ausgefallen, im Extremfall bis zu 110 Prozent.

Reine Risikoabsicherung ohne Sparanteil

So hat eine 82 Jahre alte Versicherungsnehmerin in diesen Wochen ebenfalls unerfreuliche Post von ihrer Pflegetagegeldversicherung erhalten. Die Rentnerin solle künftig monatlich gut 160 Euro Beitrag aufbringen statt bisher 97 Euro, war dem Brief zu entnehmen.

Vereinbart war die Zahlung von Tagegeld ab Pflegegrad 3. Tritt der Leistungsfall bald ein – was angesichts des relativ hohen Alters der Kundin nicht so unwahrscheinlich wäre –, dann zahlt die Versicherung nur, wenn kein Zahlungsverzug besteht.

Eine einfache Vertragskündigung ist für die meisten Kunden keine Option. Und je länger sie dabei sind, umso größer wird die Scheu, aus dem Vertrag auszusteigen. Denn bei einer Kündigung sind die bisher gezahlten Beiträge verloren.

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Rechtlich gesehen, handelt es sich bei der privaten Pflegetagegeldversicherung um eine reine Risikoabsicherung ohne Sparanteil. Im Lauf der Jahre können dabei erhebliche Beitragssummen zusammenkommen. So zahlte die 82-Jährige seit 2007 mehr als 13.000 Euro ein, das Ehepaar Z. überwies in gut einem Jahrzehnt rund 20.000 Euro.

„Es ist ein Skandal, dass die Menschen jahrelang die Prämien gezahlt haben und nun, kurz bevor es auf den Versicherungsschutz ankommt, auf einmal Steigerungen der Beiträge von bis zu 110 Prozent akzeptieren sollen“, sagt der Chef der Verbraucherzentrale NRW, Wolfgang Schuldzinski, WELT. Wer sich dagegen wehren wolle, müsse auf eigene Kosten den Gerichtsweg beschreiten.

Versicherer haben Standardformulierungen entwickelt, um aufgebrachte Kunden zu beruhigen. „Sie können sicher sein, dass wir die Beiträge nicht willkürlich erhöhen“, schreibt etwa die UKV an das Ehepaar aus dem Westfälischen.

Eine Art Lockvogelstrategie?

Es gebe „vielschichtige Ursachen“ für die drastische Anhebung, darunter der medizinische Fortschritt, die Zunahme bestimmter Krankheiten wie Demenz und schließlich „die Niedrigzinspolitik in der EU“, die eine hohe Verzinsung der Alterungsrückstellungen verhindere.

Rechtlich gesehen darf der Versicherer die Beiträge nur erhöhen, wenn sich die Versicherungsleistungen und die Sterbewahrscheinlichkeit geändert haben. Wie sich aus diesen eher kontinuierlichen Trends Beitragssprünge um 70 Prozent oder mehr ergeben können, ist für viele Versicherten schwer nachvollziehbar.

„Wir fordern, dass die BaFin als zuständige Aufsichtsbehörde diese enormen Beitragssprünge stellvertretend für alle Versicherten vorab ausreichend unter die Lupe nimmt“, sagt Schuldzinski. Es müsse geprüft werden, ob die Steigerung nachvollziehbar sei, aber auch, ob die Erstkalkulation der Beiträge zu niedrig ausgefallen sei.

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Trotz „Corona“-Werbung

Denn „das würde die Versicherung natürlich erst einmal attraktiver machen“. Mit anderen Worten: Es könnte sich um eine Art Lockvogelstrategie handeln. Das streiten die Versicherer jedoch vehement ab. Sie verweisen vielmehr auf eine gesetzliche Vorschrift.

Diese erlaube es der PKV nur nachträglich, wenn der Anstieg der Leistungsausgaben oder der Lebenserwartung einen bestimmten Schwellenwert übersteige, die Beiträge zu erhöhen. Das führe teilweise zu extremen Sprüngen.

Das Ehepaar Z. verzichtete schließlich auf einen Prozess, wie die meisten Kunden. Stattdessen akzeptierte es eine Senkung des Tagesgelds. Trotz der geringeren Leistung steigen die Beiträge, allerdings moderater. „Eine solche Erhöhung mag legal sein, aber ich finde sie sittenwidrig“, ärgert sich der Mann: „Entweder ist das eingezahlte Geld futsch, oder wir beißen in den sauren Apfel.“

Wann sich eine Pflegezusatz-Police lohnt

Private Pflegezusatzversicherungen sind weitverbreitet. Die Einführung der Pflegepflichtversicherung im Jahr 1995 öffnete dieses Geschäftsfeld für die Assekuranzen. Denn die Pflichtversicherung deckt nur einen Teil der Kosten ab. Den fehlenden Betrag zahlen die Betroffenen selbst.

Pflegezusatzversicherungen versprechen, diese „Pflegelücke“ zu schließen. Neben der am weitesten verbreiteten Form der Absicherung über ein Tagegeld offerieren die Anbieter reine Pflegekosten-Policen oder die sogenannten Pflege-Rentenversicherung, die ähnlich funktioniert wie eine Lebensversicherung.

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Privat oder gesetzlich?

Beim Verkauf der Policen knüpfen die Vertriebsmitarbeiter gern an die Angst vieler Deutscher an, die eigenen Kinder müssten einspringen oder das Vermögen werde aufgezehrt, falls sie irgendwann ins Pflegeheim gehen müssen.

Tatsächlich betragen die Kosten für die vollstationäre Pflege im Durchschnitt oft 3500 bis 4000 Euro monatlich. Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei etwa zwölf Monaten. Verbraucherschützer raten Interessenten, sorgfältig zu überlegen, ob für sie eine solche Absicherung individuell sinnvoll und notwendig ist. Dabei sollten zum einen die Leistungen aus der Pflegepflichtversicherung berücksichtigt werden.

Bei Pflegegrad 3 erhält man aus diesem Topf beispielsweise 1262 Euro monatlich bei vollstationärer Pflege. Werden die Rente und eventuelle weitere Einnahmen hinzugezogen, verkleinert sich die Pflegelücke – womöglich bis auf null, oder sie kann durch eventuell vorhandenes Vermögen ausgeglichen werden.

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Deshalb sei zu überlegen, ob privates Sparen eine Alternative zur Beitragszahlung sein kann. Dieses Geld könne bei Bedarf zur Deckung der Pflegelücke oder anderweitig eingesetzt werden, falls der Pflegefall nicht eintritt. Allerdings gehöre zu diesem Weg viel finanzielle Disziplin, warnen Experten. Außerdem zahlt die Pflegeversicherung auch, wenn das eigene Geld aufgebraucht ist.

Bei der Inanspruchnahme der Kinder gibt es seit Anfang 2020 eine deutliche Entlastung. Erst ab einem Bruttoeinkommen ab 100.000 Euro jährlich werden Kinder zum Elternunterhalt herangezogen. Dabei zählt das Einkommen des Ehepartners nicht mit.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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