Obdachlosigkeit am Hamburger Hauptbahnhof – Endstation Elend – hier gilt nur eine einfache Regel

Das Elend am Hamburger Hauptbahnhof wächst: Angst, Alkohol, Gewalt und Obdachlose, die wie tot neben einer Laterne liegen. Doch sie schätzen diesen Ort – aus zwei Gründen. Bericht von ganz unten.

Der dicke Mann mit dem Bart liegt neben einer Straßenlaterne, Beine und Arme schlaff von sich gestreckt. Er trägt einen schmutzigen Parker und zerlöcherte Lederschuhe, neben ihm kleben zermatschte Fritten auf den Bordsteinplatten. Nur das Heben und Senken der Brust verrät, dass dieser Mensch noch lebt. Sonst wirkt der Obdachlose wie tot. Und um ihn herum tobt das Leben.

Es ist eine Szene, wie man sie immer häufiger beobachten kann am Hamburger Hauptbahnhof – in den vergangenen Monaten ist das Elend hier allgegenwärtig geworden. Mehr als 500.000 Menschen eilen täglich vorbei, sie fahren zur Arbeit oder in die Stadt, um einzukaufen. Unter ihnen leben Gruppen von Menschen, die viel tiefer nicht mehr fallen können. Obdachlose, die ihren Kummer ertränken. Mit Korn und Dosenbier. Sie schlafen auf den Betonplatten, schnorren bei Passanten, pinkeln an Wände, Fahrräder und Foodtrucks. Immer wieder kommt es unter den Betrunkenen auch zu Handgreiflichkeiten.

Die Situation an Hamburgs Verkehrsknotenpunkt spitze sich zu, sagen Oppositionspolitiker, immer wieder berichten Hamburger, dass sie sich am Hauptbahnhof schlicht nicht mehr sicher fühlten. Und während Experten aus allen denkbaren Bereichen über der Frage brüten, wie man die Situation entspannen, welche Beleuchtungen man austauschen, wo die Dächer erneuern könnte, fließt zwischen dem Elektromarkt Saturn und dem Deutschen Schauspielhaus weiterhin der Schnaps.

Nirgends landen so viele Münzen im Pappbecher wie hier

Es sind kleinere Grüppchen, meist vier oder fünf Personen, meistens sind es Männer, nur selten mischt sich eine Frau darunter. Einige plaudern, andere starren unbeteiligt in die Gegend, einige sitzen auf Pappen und Decken, andere stehen neben dem U-Bahn-Ausgang gelehnt. Alle trinken sie. Warum sie das tun, weiß Sven Müller, Spitzname Shorty („Ich trinke gern mal einen Kurzen“), ein bulliger Mann mit rotem Bart.

Sven Müller ist Teil der Szene, an der sich so viele stören in letzter Zeit. Er sieht nicht nur die Gestalten täglich durch die Menschenmassen wanken. Er kennt auch die Vorzüge des Hauptbahnhofs für Trinker, denn jeder Alkoholiker ist hier in bester Gesellschaft. Nirgends werfen Passanten mehr Münzen in die Bettelbecher, gleichzeitig sorgen lange Ladenöffnungszeiten dafür, dass der Nachschub ständig verfügbar ist. Seit Monaten sucht Müller, „obdachlos aber friedlich“, in Hamburg eine Bleibe. Und findet keine.

Sven „Shorty“ Müller lebt seit einem Jahr am Hauptbahnhof. (Foto: Juergen Joost)

Wie viele Trinker regelmäßig am Hauptbahnhof unterwegs sind, kann keiner genau beziffern. Die Polizei hält sich bei Schätzungen bedeckt, Sozialarbeiter sprechen von Hunderten. Etwa die Hälfte davon komme aus Deutschland, die andere aus dem Ausland, sagt Eva Lindemann vom Träger „hoffnungsorte hamburg/Verein Stadtmission“, der diverse Hilfseinrichtungen betreibt. Die Bahnhofsmission zum Beispiel, die Unterkunft Pik As oder die Beratungsstelle Plata für Menschen aus Osteuropa.

„Am Hauptbahnhof wird das Elend besonders sichtbar, weil hier krasse gesellschaftliche Gegensätze aufeinandertreffen“, sagt Lindemann. Geschäftsleute würden auf Obdachlose treffen, Touristen auf Trinker. Es gebe die Punks gegenüber der Spitaler Straße, die oft nur am Wochenende anzutreffen seien, und die besonders schlimmen Fälle im Bereich des Hachmannplatzes und rund um den Zentralen Omnibus Bahnhof (ZOB). „Der Grad der Verelendung hat sich in den vergangenen Monaten erhöht“, sagt Lindemann.

Schon lange tüfteln die zuständigen Behörden an Strategien, um das Klima im und rund um den Bahnhof zu verbessern. Die Handelskammer hat kürzlich ein Konzept vorgestellt, um den Hauptbahnhof aufzuwerten, seit 2012 tagt außerdem ein Runder Tisch zum Thema, unter anderem diskutieren hier Vertreter der zuständigen Behörden und Menschen aus dem Bezirk verschiedene Lösungsansätze. So wurden Vordächer repariert, die Beleuchtung ausgebaut, Urinanlagen aufgestellt und die Reinigung intensiviert.

Die Zahl der Einsätze steigt kontinuierlich

Auch arbeiten Sicherheitskräfte und Sozialarbeiter inzwischen enger zusammen. Und es sind weitere Maßnahmen geplant: Mauern, auf denen die Obdachlosen gern sitzen, sollen rückgebaut, auch andere Aufenthaltsorte durch Umbauten unattraktiv gemacht werden. Denn immer häufiger sorgen die Männer mit dem Schnaps für Ärger.

237 Einsätze hat die Landespolizei rund um den Hauptbahnhof bis Anfang September registriert. Bei der Bundespolizei sind es fast vier Mal so viele. Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, Rettungswagen der Feuerwehr mussten 2015 sogar doppelt so häufig anrücken wie noch im Vorjahr, nämlich ganze 1109 Mal. Auch am Freitagabend müssen die Sanitäter wieder anrücken und einen benommenen Mann auf eine Trage hieven.

An Hoffnungslosigkeit kaum zu überbieten: ein Obdachloser bettelt um Almosen. (Foto: picture-alliance/ ZB)

Ein unhaltbarer Zustand, wie CDU-Innenexperte Dennis Gladiator findet. „Ich bin oft mit der Bahn unterwegs, etwa nach Berlin“, sagt der Bürgerschaftsabgeordnete aus Bergedorf. Was er dann am Hauptbahnhof erlebe, rege ihn regelmäßig auf. „Nicht nur, dass man ständig darauf angesprochen wird, ob man eine Zigarette habe. Man wird beschimpft und bedroht.“ Der Hauptbahnhof sei die Visitenkarte der Stadt, sagt Gladiator. Aktuell ist es keine, mit der man Werbung für sich machen könne. Der Politiker fordert mehr Personal, um die sichtbare Präsenz von Bundes- und Landespolizei zu erhöhen, auch wenn die nur ein Teil der Lösung sein könne, und einen Ausbau von moderner Videotechnik im Bahnhof.

Sven „Shorty“ Müller schläft seit zwölf Monaten am Hauptbahnhof, mal geht der 36-Jährige in die Neustadt „zum Schnorren“, dann wieder sitzt er mit anderen Trinkern unter dem Glasdach des Hauptbahnhofs direkt gegenüber vom Schauspielhaus. Am Hauptbahnhof, sagt Shorty, würden eben alle Obdachlosen trinken. „Wegen der Kälte. Oder wegen der Sorgen.“ An diesem Donnerstagnachmittag ist sein Sorgenvertreiber eine Mischung aus Orangenbrause und Korn.

Die Fallzahlen am Hauptbahnhof hätten sich in den letzten Monaten nicht so entwickelt, dass man objektiv von einem Sicherheitsproblem sprechen müsse, sagt Olaf Sobotta, Chef des Polizeikommissariats 11, dessen Revier neben dem Steindamm und dem Hansaplatz auch die östliche Seite des Hauptbahnhofs umfasst.

Sobotta, 51 Jahre alt, kurze graue Haare und ein fein gestutzter Schnauzer, ist ein hemdsärmeliger Kerl, einer der zu St.Georg passt, obwohl er das Polizeikommissariat erst seit wenigen Monaten leitet. „Wenn zehn oder fünfzehn Menschen auf der Straße stehen und Bier trinken, dann ist das nicht verboten. Die stellen erst einmal keine Gefahr dar“, sagt er.

Olaf Sobotta leitet seit einigen Monaten das Polizeikommissariat 11 in St. Georg. (Foto: Juergen Joost)

Dass an so präsenten Großstadtorten wie dem Hauptbahnhof ein gewisses Maß an Randständigen anzutreffen ist, sei akzeptiert und auch normal, betont Normen Großmann, Chef der Bundespolizeiinspektion Hamburg, dessen Revier den Hauptbahnhof, und die Bahnhöfe Altona und Harburg umfasst. Schwierig werde es, wenn sich diese Szene am Hauptbahnhof „verfestige“ und die Probleme, die daraus erwachsen, das subjektive Sicherheitsgefühl der täglich mehr als einer halben Million Bahnhofsbesuchern schmälern. Wenn sich Betrunkene untereinander prügelten, wenn aggressiv gebettelt werde, wenn Schimpfworte fliegen, die Fäuste gehoben würden, dann sei die Balance zwischen Toleranz und Sicherheitsgefühl gefährdet, sagt Großmann.

Wie neulich im August, als die Szene wieder stärker präsent war: „Als sich die Reisenden mit ihren Rollkoffern einen Weg durch eine grölende, alkoholisierte Masse bahnen mussten, drohte die Stimmung zu kippen“, sagt Großmann. Bundes- und Landespolizei reagierten mit gemeinsamen Streifen, sprachen mit Obdachlosen, räumten die Wege frei, erteilten Platzverweise. Doch Großmann weiß auch: „Erfahrungsgemäß hält die Wirkung solcher polizeilicher Maßnahmen aber nur kurze Zeit an und ist keinesfalls die Lösung des Problems.“

Der Hauptbahnhof ist nicht der einzige Brennpunkt

Auch Sven „Shorty“ Müller berichtet von Prügeleien zwischen seinen Saufkumpanen – was den sozialen Abstieg angehe, gebe es für die Männer eine einfache Regel: „Je länger die auf der Straße sitzen, desto größer werden die Alkoholprobleme.“ Und mit dem Promillewert steige bei einigen eben auch die Aggressivität. „Ohne Wohnung findest du keinen Job und ohne Job keine Wohnung. Das ist frustrierend“, sagt der 36-Jährige.

„Langfristig wird man nur etwas verändern können, wenn man die Ursachen der Obdachlosigkeit bekämpft“, sagt Eva Lindemann. Von den Baumaßnahmen verspreche sie sich da wenig. Man müsse mehr Wohnraum zur Verfügung stellen, die Konzentration der Trinker am Hauptbahnhof deute außerdem darauf hin, dass die Hilfsangebote in den Stadtteilen nicht ausreichen würden. „Der Hauptbahnhof ist Symptomträger einer Situation, die man in der gesamten Stadt beobachten kann“, sagt Lindemann. Und erklärt die Abwärtsspirale der Männer aus Osteuropa, die auf dem kalten Asphalt rund um den Hauptbahnhof endet.

Lindemann hält nichts von einer Pauschalisierung, jeder Fall sei anders, einer der typischen Wege in den sozialen Abgrund verläuft laut ihrer Schilderungen jedoch in etwa so: Männer reisen aus Polen, Bulgarien oder Rumänien an, arbeiten in Hamburg für einen Hungerlohn, werden von ihren Arbeitgebern ausgebeutet. Dann verlieren sie den Job, werden um ihren Lohn betrogen und landen schließlich auf der Straße. Es folgen psychische Probleme, körperliche Beschwerden, Sucht. „Die Menschen kommen nicht als Alkoholiker nach Hamburg“, sagt Eva Lindemann. Bemerkenswert sei, dass fast die Hälfte der Obdachlosen vom Hauptbahnhof Anspruch auf Sozialleistungen habe. Doch die Menschen seien schlicht zu krank, um die entsprechenden Anträge auszufüllen.

Im Winter nehmen die Probleme am Hauptbahnhof noch zu

Die Szene ist flexibel, pendelt zwischen Steindamm und Hauptbahnhof und hat sich mittlerweile auch am ZOB festgesetzt, wo sie auf eine immer größer werdende Schar an Busreisenden trifft, die schon beim Aussteigen um Geld angebettelt werden. Der erste Eindruck sei dann nicht der beste von der Stadt, sagt Polizeikommissar Olaf Sobotta. Die Wiese zur Kurt-Schumacher-Allee sei voll mit schlafenden Betrunkenen und Fäkalien. In den kommenden Wochen, wenn das Wetter noch ungemütlicher und es noch kälter werde, werde sich die Szene weiter unter den Glasdächern des Hauptbahnhofs und an den geschützten Bushaltestellen am Hauptbahnhof „komprimieren“, sagt er.

Nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, eröffnet Anfang November zudem das größte Quartier im Hamburger Winternotprogramm seine Pforten, im Münzviertel, ein paar Gehminuten entfernt. 400 Obdachlose werden dort eine zeitweilige Bleibe finden. Das werde der Szene am Hauptbahnhof noch einmal Auftrieb geben, glaubt Sobotta. Besonders tagsüber, wenn die Unterkunft geschlossen ist.

In diesem Jahr wird der Etat für das Winternotprogramm mit besonderen Beratungsangeboten erstmals auf 2,5 Millionen Euro aufgestockt, um die Menschen von der Straße intensiver betreuen zu können. Im vergangenen Jahr hat allein die Beratungsstelle Plata, die sich speziell an Osteuropäer wendet, mehr als 1000 Beratungsgespräche geführt. 365 Menschen sind danach in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie haben erkannt, dass ihre Hoffnung auf ein besseres Leben in Hamburg nicht erfüllt wird.

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