Mays großer Knall

© dpa Gut gelaunt: Die Brexit-Premierministerin Theresa May

Es ist 30 Jahre her, dass der „Big Bang“ das Londoner Bankenviertel erschüttert hat. Unter diesem Namen ist im Oktober 1986 die radikale Deregulierung der britischen Geldbranche in die Finanzgeschichte eingegangen. „Lasst uns die Regeln wegwerfen, die den Erfolg bremsen“, hatte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher im Parlament für ihre Reform geworben.

Marcus Theurer Folgen:

Aber mit drei Jahrzehnten Abstand fällt die Bilanz des Big Bangs zwiespältiger denn je aus: Einerseits musste Großbritannien während der Weltfinanzkrise vor acht Jahren für das Laissezfaire in der City teuer bezahlen. Andererseits wäre London ohne die Reform der Erzkapitalistin Thatcher heute kaum der wichtigste Knotenpunkt des globalen Finanzsystems.

Aufstand gegen den Status quo

Der „große Knall“ von damals war eine der symbolträchtigsten Weichenstellungen der Eisernen Lady. Doch Thatchers langer Schatten reichte viel weiter. Kapitalismus und Liberalismus haben im vergangenen Vierteljahrhundert Großbritannien stärker geprägt als jedes andere europäische Land. Ob John Major, Tony Blair oder David Cameron – wer auch immer in der Downing Street gerade regierte: Thatchers marktliberale Grundlinie hatte Bestand.

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Bis zum 23. Juni 2016: Der Tag, an dem mehr als 17 Millionen Briten für den Austritt ihres Landes aus der EU stimmten, brachte in Großbritannien einen noch sehr viel weitreichenderen und ganz anderen Big Bang als vor drei Jahrzehnten. Theresa May, die neue Regierungschefin in London, die ihr Amt dem Brexit zu verdanken hat, nimmt das Referendum nicht nur als Veto gegen die EU. Sie sieht in ihm einen Aufstand gegen den gesellschaftlichen Status quo in Großbritannien selbst.

May wird manchmal mit Thatcher verglichen, weil sie wie diese Härte und Ernsthaftigkeit ausstrahlt. Dabei ist das Gegenteil der Fall: May ist die Anti-Thatcher. So konsequent wie sie hat sich keiner ihrer Vorgänger von dieser abgewandt. Lässt May ihren Worten Taten folgen, dann wird in Großbritannien der starke Staat zurückkehren, der interveniert und lenkt. Und während Thatchers Big Bang die Londoner City zum Marktplatz der Globalisierung machte, wird unter May Weltoffenheit zum Makel: Wer sich als „Bürger der Welt“ sehe, der sei in Wahrheit ein „Bürger von nirgendwo“, attackiert sie die Mächtigen der Wirtschaft. Ihre Innenministerin forderte gar, Unternehmen, die viele ausländische Mitarbeiter beschäftigen, öffentlich anzuprangern.

Die Gräben der Globalisierung

So alarmierend und fehlgeleitet die neuen Rezepte sind – May liegt richtig, wenn sie darauf hinweist, dass es beim Referendum um mehr als um den Brexit ging. Die EU ist für Millionen Briten zum Symbol für eine Lebenswelt geworden, von deren Ordnung nur eine Elite profitiert. Der EU-Binnenmarkt ist für sie eine Veranstaltung zum wirtschaftlichen Vorteil ebenjener „Bürger von nirgendwo“, also den Managern der Großkonzerne und Banken, die vor dem Referendum am lautesten vor dem EU-Austritt gewarnt haben. Hingegen meinen viele Wähler, dass ihnen der gemeinsame Markt der EU in erster Linie Nachteile bringe durch zu viele Einwanderer aus Osteuropa.

Theresa May sieht im #Brexit-Votum einen Aufstand gegen den gesellschaftlichen Status quo.

Es muss sich niemand wundern über diesen Aufstand auf der Insel. Die Globalisierung hat in vielen westlichen Industrieländern Gräben aufgerissen. Aber in kaum einem sind die Einkommensunterschiede heute so groß wie in Großbritannien, auch geographisch: Die Früchte der Liberalismus und Globalisierung erntet vor allem das reiche London und sein Umland. Fast drei Viertel aller Briten leben dagegen in Regionen, die ärmer sind als der europäische Durchschnitt, so rechnet die Londoner Denkfabrik CER vor.

Das hat wenig mit der EU, aber viel mit spezifisch britischen Fehlentwicklungen tun. Womöglich wächst durch den Brexit die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern sogar noch. Der Schwächeanfall des Pfunds seit dem Austrittsvotum ist ein erstes Beispiel dafür: Weil er viele importierte Güter des täglichen Bedarfs verteuert, trifft er Geringverdiener besonders hart. Von der derzeitigen Hausse an der Londoner Aktienbörse, die ebenfalls Folge des schwachen Pfunds ist, profitieren dagegen die Vermögenden.

EU-Austritt könnte auch ruralen Gegenden schaden

Die Schere zwischen der Hauptstadt und ihrem Land könnte sich ebenfalls weiter öffnen. Trotz aller Warnungen vor dem Niedergang des Bankenviertels nach dem Brexit – London wird der Austritt wohl am wenigsten schaden. Ökonomen weisen jedenfalls darauf, dass die Metropole weniger vom EU-Handel abhängig sei als viele andere britische Regionen. Die Weltstadt macht eben nicht nur Geschäfte mit Europa, sondern mit der Welt.

Das ist die bittere Ironie des Referendums. Die Brexit-Premierministerin May verspricht den Bürgern eine Wirtschaftsordnung, „von der alle etwas haben“. Genau das nämlich haben die zurückliegenden Jahrzehnte des Liberalismus in Großbritannien nicht geleistet. Aber der EU-Austritt macht es für May nicht leichter, ihr Versprechen einzulösen. Er macht es schwerer.

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