Aus Nordrhein-Westfalen kommt Widerspruch beim Berliner Kongress der Grünen zum neuen Grundsatzprogramm. Dass „im Mittelpunkt“ der Politik „der Mensch in seiner Würde und Freiheit“ stehen soll, wie es Parteichef Robert Habeck gern aus dem Grundsatzprogramm von 2002 übernehmen würde, wird mit einem Fragezeichen versehen.
„Soll in der Präambel wirklich stehen, dass sich alles um den Menschen dreht?“, zweifelt die Wortführerin der Teilnehmer aus dem NRW-Landesverband bei der Abschlussbesprechung am Samstag zu einem ersten Zwischenbericht in der Arena-Halle im Ortsteil Berlin-Treptow. Gehöre nicht doch eher „die Natur ins Zentrum“?
Diskussionsfreude ist seit Beginn ein Markenzeichen der Grünen, die dieser Tage ihren 40. Geburtstag feiern. Aber anders als in der Anfangsphase und bis in die jüngere Vergangenheit hinein äußert sie sich nicht in wildem Flügelschlagen zwischen Realos und Fundis, zwischen Reformern und Linken, zwischen Vernunft und Ideologie. Sondern in einem ungewohnt zivilen und konzentrierten Diskurs. Seit Freitagnachmittag besprachen anfänglich bis zu 700 Grüne und rund 100 interessierte Nichtmitglieder den 74-seitigen „Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm“.
In der schon etwas sparsamer besuchten Abschlussrunde wird Kritik laut. Etwa daran, dass der Entwurf den Teilnehmern, die sich unabhängig von Funktionen oder auch Parteibuch in der Geschäftsstelle anmelden konnten, erst am Freitagmorgen zugegangen sei, dem Tag des Treffens. Darum kündigt die Sprecherin der Grünen aus Hamburg „viele Änderungsanträge“ aus ihrem Landesverband an, ohne in Details zu gehen.
„Veggie-Day-Trauma überwinden“
Konkreter wird in dieser Runde eine Vertreterin der traditionell aufmüpfigen Berliner. Die Partei, so fordert sie, müsse ihr „Veggie-Day-Trauma überwinden“ und angesichts der Klimaveränderung auch wieder unpopuläre „Verzichtszumutungen“ fordern: von den Einschränkungen beim Fleischverzehr bis zur Kontingentierung individueller Flüge pro Person und Jahr, wie dies doch neulich auch ein Grünen-Bundestagsabgeordneter gefordert habe. Gemeint ist Dieter Janecek, der ein jährliches Limit von drei Hin- und Rückflügen ins Gespräch brachte mit der Möglichkeit, Zertifikate für zusätzliche Flüge von Nichtfliegern zu erwerben.
Insgesamt aber überwiegt die Zufriedenheit. Diskussionsteilnehmer danken den Organisatoren, dem Bundesvorstand, denen, die in der Veranstaltungshalle für Ordnung oder das (natürlich vegetarische und Plastikbesteck-freie) Catering gesorgt haben. Ein kleines mutiges Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, geht nach vorne und piepst ihr Lob für die Kinderbetreuung ins Mikrofon; das habe ihr und ihrer Freundin toll gefallen. Die niedliche Szene sorgt für gesonderten Applaus in dem ohnehin frohgemuten Kreis. Die Partei freut sich über gute Umfragewerte. Habeck und seine Co-Vorsitzende Annalena Baerbock scheinen unumstritten.
„Für mich sind sie die Richtigen“, sagt etwa Hans-Jürgen Reitmeyer, der 1979 über den Ökokonservativen Herbert Gruhl, vormals Bundestagsabgeordneter der CDU, während der Gründungsphase zu den Grünen stieß. „Baerbock und Habeck sind nicht so verbissen und bringen auch schwierige Sachverhalte so rüber, dass die Menschen die Probleme verstehen.“ Der Tscheche Milan Horacek, ein weiterer Grüner der ersten Stunde und später Bundestags- sowie Europaabgeordneter, sieht es ähnlich. „In den 40 Jahren der Grünen gab es Pendelbewegungen, in denen mal Petra Kelly und mal Joschka Fischer die Richtigen an der Spitze waren, und jetzt sind es Habeck und Baerbock“, sagte Horacek WELT.
Geschlossenheit ist also eher angesagt als Streit, und vielleicht deshalb werden allzu kritische Veteranen wie Grünen-Mitbegründerin Eva Quistorp zwar in einem Film über die 40 Jahre der Partei gewürdigt, aber nicht live auf die Bühne gebeten. Fürchtete man, dass die unbequeme Quistorp, Theologin und ehemals Teil der West-Berliner Sponti-Szene, sonst wieder einmal die allzu euphorische Position der Grünen zur unkontrollierten Zuwanderung 2015 infrage gestellt hätte?
Gleichwohl erwartet auch Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, dass der Zwischenbericht noch viele Änderungen und Ergänzungen erleben werde. „Das ist ein offener Prozess“, sagt der Thüringer. Nach den Europa-, Kommunal- und Landtagswahlen zwischen Mai und Oktober werde es diverse Regionalkonferenzen geben. Bis Frühjahr kommenden Jahres sei ein erster Entwurf geplant (als den man diesen „Zwischenbericht“ noch keineswegs verstehen dürfe), und im Herbst 2020 solle dann das vierte Grundsatzprogramm der Grünen beschlossen werden.
Greta Thunberg finden hier alle gut
Denn trotz des guten Abschneidens bei den Landtagswahlen voriges Jahr, trotz der aktuellen Zweitplatzierung in den meisten Umfragen, hinter der Union, aber vor der SPD, und trotz der erstmaligen Führungsrolle für Habeck im ZDF-Politbarometer begreift sich die Grünen-Basis eher programmatisch als pragmatisch. In etwa 120 Foren der Diskussionsveranstaltung wurde immer wieder das Drängeln deutlich, viel mehr Druck zu machen, um etwa den von der großen Koalition für 2038 beschlossenen Kohleausstieg vorzuverlegen und entschiedenere Maßnahmen zur CO2-Reduktion zu erzwingen, damit die Pariser Klimaziele erreicht werden. Die Grünen müssten wieder „radikalere Forderungen“ stellen, war oft zu hören.
Greta Thunberg finden hier alle gut. Die Forderungen des schwedischen Teenagers nach einem abrupten Bruch mit dem westlichen Lebensstil und Konsumverhalten werden weder als zu rigoros noch als unrealistisch angesehen. Dementsprechend begeistert war der Beifall, als am Freitag Luisa Neubauer, eine Wortführerin der deutschen „Fridays for Future“-Schulschwänzer und nebenbei Grünen-Mitglied, ihre Aufwartung machte. „Dass der Kohleausstieg eigentlich ziemlich gleich passieren muss, ist ja offensichtlich“: So bekräftigte die 22-jährige Geografie-Studentin, dass der Kohlekompromiss beschleunigt und der Ausstieg früher als in 19 Jahren erfolgen müsse.
Lukas Beckmann, einer der Mitbegründer der Partei vor 40 Jahren, hatte am Freitag Sprechzeit auf der Bühne bekommen und dabei die ihm nach seiner Darstellung in vielen Interviews gestellte Frage bejaht, ob die Grünen „auch das Kanzleramt anstreben“ sollen. Habeck, den über die Parteigrenzen hinaus viele als natürlichen Kanzlerkandidaten des Lagers links der Mitte ansehen, ist in seinen Formulierungen vorsichtiger. Und in der Tat ist eine grüne Kanzlerschaft für die überschaubare Zukunft äußerst unwahrscheinlich, weil es dazu entweder eine rot-rot-grüne Mehrheit oder ein Vorbeiziehen der Grünen an der Union geben müsste. Aber dass die Partei endlich wieder mitregieren möchten in Berlin, ist in der Parteispitze weitgehend Konsens.
Hier dürfte in der weiteren Debatte über das vierte Grundsatzpapier der Grünen – nach den Vorläufern aus den Jahren 1979, 1993 und 2002 – die Frontlinie verlaufen: Wie geschmeidig muss die einstige „Anti-Partei“ sein, um künftig mit einer Union zu regieren, die unter der Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer und angesichts der aktuell nicht zunehmenden, aber gleichwohl stabilen AfD-Werte kaum nach links rücken wird? Und wie prinzipienfest müssen die Grünen Zumutungen formulieren, um ihre Ziele zu erreichen und für ihre Basis glaubwürdig zu bleiben?
Man könnte auch fragen, ob Habeck Schritt halten kann mit Greta.
Antworten