In Norwegen hat Europas erster Unterwasser-Restaurant eröffnet. Für einen spontanen Besuch eignet es sich nicht: Bis August sind alle Tische reserviert.
Napfschnecke, Vielborster, Meeresfloh. Nicolai Ellitsgaard scheinen die Ideen für das 18-gängige Menü nicht auszugehen. So vielgestaltig sei das Meer, und trotzdem würde man daraus immer nur das Gleiche und meist nur die Filetstücke essen. „Das will ich ändern!“, sagt der Däne.
Dieses Vorhaben hat wohl mit seinem neuen Arbeitsplatz zu tun: Ellitsgaard ist Küchenchef im Under, einem Restaurant, das nicht am, sondern im Meer liegt. Es wurde in der vergangenen Woche an der Küste von Lindesnes eröffnet, am südlichsten Zipfel von Norwegen. Seit er vor zweieinhalb Jahren für das Projekt engagiert wurde, hat er sich an das Ausprobieren neuer, ungewöhnlicher Rezepte für die bis zu 40 Abendgäste gemacht, die sein Menü für 230 Euro (ohne Wein) verkosten werden.
Die Napfschnecke etwa werde selbst in Norwegen normalerweise nicht verzehrt, so Ellitsgaard: „Dabei ist sie so ein schönes Produkt.“ Also ahmt der 32-Jährige ihr napfförmiges Gehäuse als Kartoffel-Blumenkohl-Seegras-Chip nach, um darin ein Parfait aus dem Fleisch des Weichtiers zu verstecken. Serviert wird das auf einem Stein, der auf einem mit Sand bedeckten Teller liegt. Der Aufwand ist wohl angemessen: Das Under – was im Norwegischen „unterhalb“, aber auch „Wunder“ bedeutet – ist das erste Unterwasserrestaurant in Europa und das größte weltweit.
Die schroffe, wind- und wellenumtoste Felsenküste Südnorwegens bietet für sich selbst schon Extreme und jede erdenkliche Form von Wetter innerhalb weniger Stunden. Am Tag zuvor sei es am nahen Leuchtturm von Lindesnes, dem ältesten Leuchtfeuer des Landes, zu acht Meter hohen Wellen gekommen, sagt Stig Ubostad. Doch heute ist alles ruhig und das Wasser glatt. Der 43-Jährige zurrt seinen Taucheranzug zu und schultert die Sauerstoffflasche. Der passionierte Taucher und Eigentümer des Under will noch ein letztes Mal im vier Grad kalten Wasser nach dem Rechten sehen, bevor seine ersten Gäste durch die 34 Meter lange und zwölf Meter breite Betonröhre sein Restaurant betreten. Zielsicher auf das elf mal 3,5 Meter große Panoramafenster zu, das unten an den Meeresboden grenzt. Für diesen Moment soll alles perfekt sein.
Stig Ubostad ist – gemeinsam mit seinem älteren Bruder Gaute – Bauherr des Under. Die beiden Hoteliers haben umgerechnet rund sieben Millionen Euro in die Realisierung des Restaurants investiert, ganz ohne öffentliche Förderungen. Das Vier-Sterne-Hafenhotel der Brüder liegt einen fünfminütigen Spaziergang davon entfernt auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht, im kleinen Fischerort Båly. Die bisherigen Attraktionen des großen Familienhotels waren ein Volleyballfeld, ein kostenloser Fahrradverleih, Angeln vom Pier oder Sandkrabbenfangen in der Bucht. Jetzt zielen die Ubostads mit dem Under auf ein internationales Publikum, das bereits fast alles kennt und immer neue Attraktionen sucht. Der Bau, entworfen vom preisgekrönten norwegischen Architekturbüro Snøhetta, hat das Zeug, zum neuen Wahrzeichen Südnorwegens zu werden. Der halb ins Meer getauchte, 1600 Tonnen schwere Monolith aus Stahlbeton erinnert an einen entgleisten Eisenbahnwaggon. Sein Dach reckt sich mit 20 Grad Steigung aus dem Wasser, nichts daran soll den Wellengang bremsen. Irgendwann wird der Koloss sowieso nicht mehr Fremdkörper sein, sondern als künstliches Riff selbst zur Muschelbank werden und dafür sorgen, dass sein Fischfutter spendendes Äußeres noch mehr subaquatisches Gewimmel entfacht.
Jahrelang hätten Stig Ubostad und sein Bruder ihre Idee hin und her bewegt, erzählt Stig, und 2015 ihr finales Konzept gefunden: Im Under sollten sich die drei unterschiedlichen Bereiche Meeresbiologie, Architektur und Gastronomie zu einem großen Ganzen fügen. „Jeder dieser drei Ansätze sollte für sich genommen schon ausreichend Grund bieten, um als Destination wahrgenommen zu werden“, findet der Norweger und fügt hinzu: „Wir wollten zeigen, was Südnorwegen alles zu bieten hat.“ Die Hoteliersfamilie engagiert sich bereits in einer Bewegung, die „den Geschmack Südnorwegens“ mit lokalen Fischern, Händlern und Gastronomen propagiert. Und nicht nur er schwärme für das Ökosystem der Küste, sagt Ubostad, seine ganze Familie tauche begeistert.
Dass bereits jetzt 7000 Reservierungen aus der ganzen Welt für das Under eingegangen sind und sich weitere 1500 Interessenten in die Warteliste eintragen ließen, hat aber wohl nicht nur mit außergewöhnlicher Kochkunst und der dramatischen Schönheit Südnorwegens zu tun, sondern vor allem mit der spektakulären Architektur: „Wir wussten“, so Stig Ubostad, „dass wir zur Umsetzung unserer Idee Hilfe von den Besten brauchten.“
Deshalb engagierten sie auch Snøhetta, eines der zurzeit spannendsten Architekturbüros Europas, das unter anderem auch das Opernhaus am Hafen von Oslo entworfen hat. Die Norweger seien gut darin, Tunnel zu bauen, scherzt der Snøhetta-Architekt und Projektleiter Rune Grasdal. Er erläutert, wie die Betonröhre vor dem Hotel auf einem Lastkahn gegossen, die Fenster eingesetzt, der Bau zu Wasser gelassen, an seinem endgültigen Standort geflutet, stabil ausgerichtet und verbolzt wurde. Anschließend hätten sie das Wasser wieder abgepumpt, den Körper getrocknet und mit der Innengestaltung begonnen.
So rau und markant, wie das Gebäude von außen ist, so warm, weich und sicher fühlt man sich in seinem teils holzverkleideten Inneren. Wer den oberirdischen Eingangsbereich passiert und zum Zwischengeschoss hinabsteigt, landet in der Mezzanin-Bar, einen Meter unterhalb des Meeresspiegels. Ein seitliches Fenster zieht sich längs durch den Sitzbereich und erlaubt den durchgehenden Blick von der Meeresoberfläche und der Felsküste bis hinunter zum Meeresboden. Sonnenstrahlen werden im aquamarinfarbenen Wasser gebrochen und schicken zitternde Lichtreflexe durch den Raum mit seinem Samtmobiliar. Dessen rötliche Farbgebung soll an Sedimente von Muscheln, Sand und Fels erinnern.
Ganz in kühles Licht getaucht ist hingegen der eigentliche Restaurantraum, fünfeinhalb Meter unter dem Meeresspiegel. Das grüne Leuchten, zusätzlich diesseits und jenseits der 25 Zentimeter dicken Acrylscheibe künstlich verstärkt, entwickelt einen Sog hin zu den Kräften und Kreaturen des Meeres. Jetzt im März seien die Pflanzen noch im Frühstadium, erläutert der Meeresbiologe Trond Rafoss, der die Under-Räumlichkeiten für Forschungen etwa zum Fischverhalten mitbenutzt. Und so bedeckt nur ein recht lichter Vorhang aus Seetang die Felsbrocken. Doch der wachse so schnell, dass man ihn in einigen Monaten vermutlich sogar stutzen müsse, um überhaupt noch durchs Glas sehen zu können, erklärt Rafoss. Schon jetzt zwirbeln die Braunalgen im Wasserwirbel wie Tänzer um sich selbst.
Im Wasser schwebende tierische Organismen, das Zooplankton, so der Biologe, würden vom künstlichen Licht des Restaurants angelockt: „Also kommen die kleinen Fische, die sich vom Zooplankton ernähren, an die Scheibe. Und die großen Fische lernen, wo sie die kleinen finden. Sie brauchen nur wenige Wochen, um das zu verstehen.“ Der Biologe zeigt den Gästen auch gern, was sie da im Wasser sehen. Oder sehen könnten: Kohlfisch und Wolfsbarsch lassen sich noch nicht blicken, wohl aber ein paar Vertreter der großen Kabeljaufamilie. Rote Seeigel, Austern und Napfschnecken haben direkt vor der Scheibe schon ein Plätzchen gefunden. Und die vielen Miesmuscheln auch, nach denen vielleicht bald Eiderenten tauchen. Seehunde gibt es hier auch ab und zu: „Aber wir wollen gar nicht, dass sie zu häufig vorbeischauen, weil sich sonst über Stunden kein Fisch mehr blicken lässt“, sagt Rafoss.
Gaute Ubostad fürchtet die Robben nicht. Der Under-Mitgründer hatte für das Projekt bereits die Unterwasserrestaurants in Dubai und auf den Malediven ausprobiert. Zunächst sei er dort überwältigt gewesen. Aber das Under biete einen noch exklusiveren Zugang zur Unterwasserwelt als seine Pendants im Persischen Golf oder im Indischen Ozean, findet er: „Denn bei 28 Grad Wassertemperatur“, sagt Ubostad, „kann ja jeder tauchen.“
Anreise: Norwegian Air Shuttle bietet täglich außer samstags Flüge von München nach Kristiansand über Oslo, Tickets ab 205 Euro, norwegian.com
Unterkunft: Das Lindesnes Havhotell gehört wie das Under den Brüdern Ubostad und liegt nur wenige Fußminuten vom Restaurant entfernt, DZ ab 1500 NOK/Nacht (rund 155 Euro), havhotellet.no
Restaurant Under: 4521 Lindesnes, Norwegen, www.under.no; nur abends geöffnet, serviert wird ein 18-Gänge-Menu ab 2250 NOK, das sind etwa 230 Euro, Getränke nicht inbegriffen. Es gibt eine Warteliste (Der „Book a table“-Button auf der Under-Webseite führt zum Kalender mit den Buchungsmöglichkeiten), derzeit sind erst ab August wieder Tische zu haben.
Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.
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