Der Bundespräsident hat sich hinter Carola Rackete gestellt, prominente deutsche Fernseh-Entertainer rufen zu Spenden auf für die in Italien unter Hausarrest gestellte Kapitänin der „Sea-Watch 3“, die Grüne Jugend will ab Montag in Berlin für sie demonstrieren.
Aber es gibt in Deutschland wie Italien auch scharfe Kritik an der deutschen Seenotretterin, die sich am Samstag entgegen italienischen Anweisungen mit der unter niederländischer Flagge fahrenden 50-Meter-Jacht die Zufahrt zum Hafen auf der Mittelmeerinsel Lampedusa erzwungen und dabei ein Boot der italienischen Finanzpolizei touchiert hatte.
Rackete hatte argumentiert, sie habe Suizide unter den 40 Migranten an Bord befürchtet und darum keine andere Wahl gehabt, als Lampedusa anzusteuern – trotz des eindeutigen italienischen Verbots. „Die Situation war hoffnungslos. Und mein Ziel war es lediglich, erschöpfte und verzweifelte Menschen an Land zu bringen“, sagte Rackete über ihre Anwälte der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“.
Die 31-Jährige hatte zusammen mit ihrer Mannschaft am 12. Juni zunächst 53 Menschen aus einem Schlauchboot vor der libyschen Küste an Bord genommen. 13 von ihnen wurden bereits in den vergangenen Tagen aus medizinischen Gründen nach Lampedusa gebracht. Rund zwei Wochen lang kämpfte der Verein Sea-Watch als Eigner der Jacht um eine Erlaubnis, in einen europäischen Hafen zu fahren.
Dabei scheiterten die Initiatoren auch juristisch: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lehnte vorige Woche einen Eilantrag ab, mit dem Rackete den Zugang zum Hafen von Lampedusa erzwingen wollte. Die Richter entschieden, laut Artikel 39 der Europäischen Menschenrechtskonvention seien „einstweilige Maßnahmen“ nur vorgesehen, wenn ein „unmittelbares Risiko für irreparablen Schaden“ bestehe.
Rackete wurde nach der Hafeneinfahrt von Polizisten an Bord festgenommen und abgeführt; am Sonntag wurde sie dann unter Hausarrest gestellt. Die 40 noch an Bord befindlichen Migranten waren in ein Auffanglager auf der Insel gebracht worden. Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Rackete unter anderem wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Verletzung des Seerechts und will am Montag über die weiteren Schritte entscheiden.
Sollte es zu einer Anklage kommen, drohen der Kapitänin laut Nachrichtenagentur Ansa drei bis zehn Jahre Haft, weil sie gegen ein Kriegsschiff Widerstand geleistet oder Gewalt angewendet habe. Rackete hat offenkundig einen eigenen Anwalt und darum bislang keinen Gebrauch gemacht von der Möglichkeit, über die deutsche Botschaft juristischen Beistand in Anspruch zu nehmen.
Im Auswärtigen Amt ist zu hören, dass die deutsche Botschaft in Rom und der örtlich zuständige deutsche Honorarkonsul mit den Behörden und der Staatsanwaltschaft in Kontakt stünden. Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte am Samstag getwittert: „Menschenleben zu retten ist eine humanitäre Verpflichtung. Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden. Es ist an der italienischen Justiz, die Vorwürfe schnell aufzuklären.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kritisierte im ZDF die (vorübergehende) Festnahme von Rackete: Es könne ja sein, dass es italienische Rechtsvorschriften gebe, wann ein Schiff einen Hafen anlaufen dürfe und wann nicht, sagte Steinmeier. Und es könne auch sein, dass es Ordnungswidrigkeiten oder Straftatbestände gebe. Italien sei aber „inmitten der Europäischen Union“ und „Gründungsstaat der Europäischen Union. Und deshalb dürfen wir von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht.“
Union kritisiert Italiens Regierung – AfD sieht eine „Kriminelle“
Die deutsche Politik zeigte sich gespalten in ihrer Bewertung des Falles. Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bezeichnete es als eine „Schande“, dass die EU wegen einer Blockade durch Italiens Innenminister Matteo Salvini „keine Lösung für das drängende Flüchtlings-Problem im Mittelmeer“ finde. Europa könne „seinen Konflikt um die Aufnahme von Flüchtlingen nicht auf dem Rücken derer austragen, die aus humanitären Gründen Menschenleben retten wollen“.
Er forderte die italienische Regierung auf, die EU-Operation Sophia wieder zuzulassen, die Rom nach der vergeblichen Forderung nach neuen Einsatzregeln im Frühjahr hatte stoppen lassen: „Wenn alle EU-Länder Schiffbrüchige aus dem Mittelmeer aufnehmen und fair verteilen würden, kann das Problem gelöst werden.“
Stefan Liebich, außenpolitischer Sprecher der Linke-Fraktion im Bundestag, rief Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Maas (SPD) auf, sich für Racketes Freilassung einzusetzen. „Nicht jene, die Menschen retten, handeln illegal, sondern die Regierungen der EU, die sie ertrinken lassen“, sagte Liebich WELT. Und weiter: „Maas und Merkel müssen sich für ihre (Racketes, d. Red.) Freilassung und für eine zivile Rettungsmission der EU einsetzen und wenn das behindert wird, eine deutsche starten.“
Bijan Djir-Sarai, außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, hält die Festnahme hingegen für gerechtfertigt. „Carola Rackete hat ihr Schiff entgegen dem ausdrücklichen Verbot der italienischen Behörden in den Hafen gesteuert“, sagte Djir-Sarai WELT. „Sie wird trotz edler Motive für diese illegale Aktion die Verantwortung übernehmen müssen.“ Die Rechtsstaatlichkeit sei „außerordentlich gefährdet, wenn unter Berufung auf gesinnungsethische Motive Gesetze gebrochen werden“.
Petr Bystron, außenpolitischer Obmann der AfD-Bundestagsfraktion, bezeichnete Rackete gar als Kriminelle und sprach Salvini seine Zustimmung aus. „Es ist europaweiter Konsens, dass die Schlepperei im Mittelmeer rechtswidrig ist. Daher ist die Festnahme von Frau Rackete ein völlig normaler Vorgang“, sagte Bystron WELT. „Sie ist eine gewöhnliche Kriminelle, bei der jedoch von linken Kreisen in Deutschland versucht wird, sie zu einer Heldin hochzustilisieren.“ Rackete habe „genügend Zeit gehabt, die Migranten in einen sicheren Hafen nach Afrika und sogar nach Holland zu bringen – das Land, unter dessen Flagge sie segelt“.
Grüne Jugend ruft zur Soli-Demo auf
Viel Solidarität erfuhr Rackete hingegen von den Grünen. Die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock forderte: „Das Auswärtige Amt sollte im Fall der verhafteten Kapitänin der ,Sea-Watch 3‘ unverzüglich aktiv werden, besonders mit Blick auf die unverständliche Handhabung, dass Carola Rackete unter Hausarrest gestellt wurde und nur Kontakt zu ihren Anwälten haben darf.“ Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen Jugend, rief auf Twitter zur Demo ab Montagmorgen vor der Italienischen Botschaft in Berlin auf: „Wir bleiben dort, bis #CarolaRackete frei ist.“
Im Gespräch mit WELT stellte Lang klar, dass die Demo nicht von der Parteijugendorganisation veranstaltet werde, sondern von Privatpersonen, die der Seebrücke Berlin nahestehen. Man müsse sehen, wie lange man die Aktion fortsetzen könne: „Zunächst wollen wir auf jeden Fall bis Freitag demonstrieren.“ Lang sagte, das Erzwingen der Hafeneinfahrt für die „Sea-Watch 3“ durch Rackete sei als Akt „zivilen Ungehorsams“ legitim: „Die italienische Regierung hat mit ihrem Handeln konkret Menschenleben gefährdet.“ Wenn Gesetze aus „menschenrechtlichen Gründen nicht tragbar sind“, werde „formales Recht zu offensichtlichem Unrecht“.
Die Satiriker und Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf haben unter dem Motto „Wer Leben rettet, ist kein Verbrecher“ zu Spenden für die Kapitänin aufgerufen. Am Sonntag gegen 16 Uhr war bereits mehr als eine halbe Million Euro zusammengekommen.
Auch in Italien sorgte der Fall Rackete für Aufruhr. Innenminister Salvini kritisierte die deutsche Kapitänin nach ihrer Festnahme in einem Facebook-Video scharf und bezeichnete ihre Einfahrt in den Hafen von Lampedusa als „kriegerische Handlung“. Er hoffe, dass die Gerichte „das Richtige“ täten und Rackete nicht freikomme. Andernfalls sei bereits ein „Auslieferungsdekret“ vorbereitet worden, mittels dessen sie in den „ersten Flug nach Berlin“ gesetzt werden würde.
Luigi Patronaggio, der Rackete als Staatsanwalt der zuständigen Region Agrigent unter Hausarrest gestellt hatte, sagte: „Die humanitären Gründe rechtfertigen keine Gewalt gegen Staatsbedienstete, die auf dem Meer für die Sicherheit aller arbeiteten.“
Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte kommentierte den Vorfall vom G-20-Gipfel im japanischen Osaka aus so: Die Gesetze existierten, „ob sie nun gefallen oder nicht“. Am Montag wird die italienische Justiz entscheiden, wie es mit Rackete weitergeht. Luigi Di Maio, Vizeregierungschef und Vorsitzender der Fünf-Sterne-Partei, hielt seinen Koalitionspartner Salvini dazu an, seinen Tonfall zu mäßigen. „Es gibt Wut, und das verstehe ich. Aber die Wut zu verstehen heißt nicht, dass man sie schüren sollte.“
Giorgio Meloni, Vorsitzender der rechten Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), verurteilte das Vorgehen Racketes: „Gegen den Willen der italienischen Regierung, des italienischen Staates und der italienischen Souveränität verletzt die ,Sea-Watch‘ unsere Grenzen und dringt in italienische Hoheitsgewässer ein, um die illegalen Einwanderer, die sie an Bord hat, in unser Staatsgebiet zu bringen.“
Gleichzeitig gab es auch Solidaritätsbekundungen für Rackete: Der italienische Intellektuelle und erklärte Salvini-Gegner Roberto Saviano nannte die Beleidigungen, die einige Anwesende der deutschen Kapitänin entgegengerufen hatten, als sie Samstagnacht an Land ging, eine „Schande“. Eine Gruppe Einheimische hatte Rackete beim Anlegen wütend beschimpft. Einer der Anwesenden rief: „Ich hoffe, dass sie dich vergewaltigen, Zigeunerin. Geh zurück nach Holland!“
Der Hashtag #CarolaRacketeINGALERA (CarolaRacketeINSGEFÄNGNIS) gehörte am Sonntagnachmittag in Italien zu den am häufigsten verwendeten Markierungen im Netz, um Salvini zu unterstützen. Alternativ nutzen viele Italiener das Schlagwort #IoNonStoConCarola (#IchSteheNichtAnCarolasSeite), um auszudrücken, dass sie zwar nicht die Partei ihres Innenministers ergreifen wollten – aber trotzdem nicht mit den Handlungen der deutschen Kapitänin einverstanden seien, weil sie italienisches Gesetz gebrochen hat.
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