Einzelgespräche ziehen sich hin – Parteifreunde zählen Merkel an

Beim Sondergipfel zur Besetzung der EU-Spitzenposten zieht sich die Serie von Einzelgesprächen von Ratschef Donald Tusk mit den Staats- und Regierungschefs in die Länge. Diplomaten sagten in der Nacht zum Montag, Tusk wolle mit jedem der 28 Staatenlenker sprechen. Das dürfte noch 1,5 bis zwei Stunden dauern, hieß es gegen 01.30 Uhr. Erst danach sollen die Gipfelberatungen in der großen Runde fortgesetzt werden. Tusk hatte den Gipfel gegen 23.00 Uhr am Sonntagabend unterbrochen, weil keine Lösung in Sicht war.

Nachdem sich zunächst abzeichnete, dass der niederländische Sozialdemokrat und bisherige EU-Kommissionsvize Frans Timmermans ein Kompromisskandidat sein könnte, baute sich später Widerstand der Osteuropäer und Christdemokraten auf. Polen, Tschechien und Ungarn äußerten sich kritisch zu dem Niederländer.

In der Vorbesprechung der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) gab es Kritik daran, dass die EVP als stärkste Fraktion im neuen europäischen Parlament nicht zum Zuge kommen solle. „So wie sich die Dinge darstellen, werden es keine sehr einfachen Beratungen“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beim Eintreffen im EU-Ratsgebäude.

Mit mehr als dreistündiger Verzögerung hat der Gipfel am Sonntagabend begonnen. Das teilte ein Sprecher von EU-Ratschef Donald Tusk auf Twitter mit. Zuvor war der Beginn des Treffens, das eigentlich um 18 Uhr beginnen sollte, bereits dreimal verschoben worden. In der Zwischenzeit hatten Tusk, Merkel sowie die anderen Staats- und die Regierungschefs Vorgespräche geführt. Eine Lösung war am Abend nicht in Sicht.

Um 23.10 Uhr unterbrachen die 28 EU-Regierungschefs ihre Beratungen. Nun versuche Tusk in Einzelgesprächen, Kompromisslösungen auszuloten, twittert sein Sprecher. Danach wolle man wieder in der großen Runde zusammenkommen.

Nach WELT-Informationen wurde Merkel bei dem EVP-Treffen von Teilnehmern massiv angegriffen. „Sie war isoliert“, hieß es in informierten Kreisen. Mehrere EVP-Regierungschefs, darunter Bulgariens Ministerpräsident Bojko Borissow, warfen ihr am Sonntagnachmittag hinter verschlossenen Türen vor, die Interessen der EVP „missachtet“ zu haben, weil sie sich bei den Beratungen über das neue EU-Personaltableau am Rande des G-20-Gipfels in Osaka zu wenig für den bei der Europawahl siegreichen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber als neuen Chef der Kommission eingesetzt habe.

Ein erster EU-Gipfel hatte keine Einigung gebracht

Die EVP lehnt die Personalie Timmermans ab. „Herr Weber ist wieder für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission im Spiel. Ob er das Amt bekommt, wird man sehen. Die EVP wird Herrn Weber nicht so einfach aufgeben, wie Frau Merkel das getan hat“, hieß es in den informierten Kreisen. Eine große Mehrheit der Regierungschefs der Europäischen Volkspartei (EVP) sei der Ansicht, dass man den Posten nicht ohne Kampf aufgeben solle, sagte der irische Regierungschef Leo Varadkar. „Als EVP haben wir dem Paket, das in Osaka ausgehandelt wurde, nicht zugestimmt. Es gibt viel Widerstand.“

Die 28 EU-Staats- und Regierungschefs wollten über den Kommissions- und den Ratspräsidenten sowie den Außenbeauftragten entscheiden. Über den EZB-Präsidenten solle erst später entschieden werden, sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Am Ende müsse es eine ausgewogene geografische Mischung sowie zwischen Männern und Frauen geben. Ein erster EU-Gipfel hatte keine Einigung gebracht, weil etwa Macron und die Liberalen das Spitzenkandidaten-Prinzip insgesamt und die Person des EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber abgelehnt hatten.

Danach gab es aber Bewegung, weil sowohl Christ- als auch Sozialdemokraten darauf pochten, dass nur einer der Spitzenkandidaten im Europawahlkampf auch EU-Kommissionspräsident werden dürfe. So erklärte Merkel zum Abschluss des G-20-Gipfels, bei den Diskussionen dort habe sich gezeigt, dass „der Spitzenkandidatenprozess doch eine erheblichere Rolle spielt als vielleicht nach dem letzten Europäischen Rat von einigen gesagt wurde“.

Tusk schlug Timmermans vor

Luxemburgs Ministerpräsident Xavier Bettel sprach von einer „Wiederauferstehung“ des Spitzenkandidaten-Prinzips. Merkel betonte, ein Konflikt zwischen Rat und Parlament müsse vermieden werden. Denn während die Regierungschefs den Kommissionspräsidenten vorschlagen, muss er vom Parlament gewählt werden. Die Fraktionen der Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen wiederum müssen sich dabei für eine sichere Mehrheit einigen – im Rat und im Parlament.

Vor dem Sondergipfel hatte Tusk den Fraktionschefs im Europäischen Parlament (EP) deshalb einen Vorschlag präsentiert: Er schlug nach Teilnehmerangaben vor, dass Timmermans EU-Kommissionspräsident werden solle. Die Liberalen könnten den Ratspräsidenten stellen. Die EVP wiederum könne den Posten des Außenbeauftragten sowie den Präsidenten des Europäischen Parlaments stellen. Dies stieß jedoch bei etlichen EVP-Politikern auf Widerstand. „Wer die Wahl gewinnt, hat das erste Zugriffsrecht“, forderte etwa EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, ein Christdemokrat. Merkel mahnte dagegen, dass die EVP auf die Stimmen der anderen Fraktionen angewiesen sei.

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EU-Kommissionspräsident

Timmermans galt als Favorit der großen EU-Staaten in Westeuropa, weil er Spitzenkandidat bei der Europawahl war und von der sozialdemokratischen Parteienfamilie unterstützt wird. Doch die Ministerpräsidenten der Visegradstaaten Polen, Ungarn und Tschechien lehnten Timmermans als ungeeignet ab. Hintergrund ist vor allem, dass der Kommissionsvize hinter den Vertragsverletzungsverfahren der Kommission wegen Rechtsstaatsverstößen etwa in Polen und Ungarn steht. Allerdings war nicht sicher, ob die Slowakei aus dieser Front ausbricht.

Nach WELT-Informationen soll die Bulgarin und bisherige EU-Kommissarin für digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Marija Gabriel, Hohe Beauftragte für Außenpolitik werden, falls Timmermans Kommissionspräsident wird. Damit würde sie Frederica Mogherini nachfolgen.

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