Dieses Jahr ist wieder ein Fußballjahr. Denn im Sommer findet die Europameisterschaft statt. Ob sie einen ähnlichen Geist versprüht wie die Turniere davor, muss sich jedoch zeigen. Schließlich wird die EM-Endrunde 2020 erstmals in ganz Europa ausgetragen. Die Mannschaften treffen zwischen 12. Juni und 12. Juli an zwölf Spielorten in zwölf unterschiedlichen Ländern aufeinander, was eher nach einer Art Champions League der Nationalmannschaften klingt. Trotzdem werden einige Duelle sicher wieder richtig spannend werden, vor allem in der K.-o.-Runde, wenn es nach der Verlängerung unentschieden steht und die Mannschaften ins Elfmeterschießen müssen. Dann wird das Spiel zu einem nervenaufreibenden Krimi, der bei den Fans unkontrollierbare Jubelausbrüche oder bodenlose Verzweiflung hervorruft und Kardiologen in Alarmbereitschaft versetzt.
Zu verdanken ist das einem Friseur aus Penzberg: Karl Wald, der 2011 im Alter von 94 Jahren starb. Der leidenschaftliche Schiedsrichter konnte es nicht ertragen, dass – wie seinerzeit üblich – wichtige Spiele bei Unentschieden nach der Verlängerung per Los oder Münzwurf entschieden wurden. Also ersann er das Duell am Elfmeterpunkt, bei dem je fünf ausgewählte Spieler beider Mannschaften im Wechsel gegeneinander antreten. Nachdem er dieses System einige Male geheim bei kleinen Turnieren im Oberland erfolgreich getestet hatte, präsentierte er seine akribisch ausgearbeitete Regel am 30. Mai 1970 beim zwölften Schiedrichter-Verbandstag des Bayerischen Fußball-Verbands in München. Trotz Skepsis des konservativen Präsidiums konnte der damals 54-jährige Wald die Versammlung mit einem flammenden Plädoyer gegen die Regentschaft des Zufalls überzeugen.
Der Rest ist Geschichte. Bald übernahmen DFB, Uefa und schließlich auch die Fifa den neuen Modus. Das erste große Turnier, das per Elfmeterschießen entschieden wurde, war die EM 1976 in Jugoslawien. Im Finale Deutschland gegen die Tschechoslowakei schoss Uli Hoeneß übers Tor in den Belgrader Nachthimmel, Antonin Panenka besiegte Sepp Maier mit einem feinen Lupfer unter die Latte, der den Tschechen den Sieg sicherte. Viele große Dramen gab es seitdem. Und Hoeneß erlebte auch als Bayern-Manager zwei Penalty-Thriller in Champions-League-Endspielen, die die ganze emotionale Bandbreite von Walds Erfindung aufzeigen: den Sieg seiner Mannschaft 2001 gegen Valencia in Mailand, der Oliver Kahn zum Titan machte, und die Niederlage beim „Finale dahoam“ 2012, in der Bastian Schweinsteiger wie Hoeneß damals in Belgrad zum Unglücksraben wurde.
Für Penzberg ist 2020 daher mehr als nur ein EM-Jahr. Schließlich jährt sich der schicksalhafte Tag, an dem Karl Wald seinen Vorschlag beim Bayerischen Fußball-Verband durchsetzte, zum 50. Mal. Und der 1. FC Penzberg, dem der Schiedsrichter mehr als 70 Jahre angehörte, wird 100. Das Museum Penzberg nimmt die drei Ereignisse zum Anlass für eine große Ausstellung über Karl Wald, den städtischen Verein und Fußball in der zeitgenössischen Kunst. Sie soll von 28. März bis zum EM-Finale am 12. Juli stattfinden.
48 Elfmeter
mussten beim bislang längsten Penalty-Thriller des Profifußballs geschossen werden: Im namibischen Pokalspiel vom 23. Januar 2005 besiegte KK Palace die Civics am Ende mit 17 zu 16. Eines der kürzesten Elfmeterschießen gab es beim WM-Achtelfinale 2006 in Köln zwischen der Schweiz und der Ukraine. Nur jeweils drei Spieler mussten an den Punkt, weil die Schweizer Schützen alle verschossen. Die Ukrainer blieben dagegen cool und waren nach drei Treffern im Viertelfinale.
Die Idee kam Kuratorin Diana Oesterle beim Spieleabend mit ihrer Familie, wie sie erzählt. Beim München-Quiz kam die Frage auf, seit wann es das Elfmeterschießen gibt. Dass es in Penzberg von Wald erfunden wurde, wusste sie. Als sie das Datum herausfand, dachte sie: „Das müssen wir zum Anlass für eine Ausstellung nehmen.“ Sie rief Sepp Siegert an, der bei der Stadt für Sportstätten zuständig ist und als Spieler und Trainer beim 1. FC Penzberg langjähriger Weggefährte von Wald war. Der war sofort begeistert und stellte den Kontakt zu Walds Enkel Thorsten Schacht her, den „Gralshüter“ des großväterlichen Erbes, wie Oesterle sagt. „Wir wollen Karl Wald aus den Erzählungen auferstehen lassen“, erklärt die Kuratorin. Denn mit der Erfindung des Elfmeterschießens sei es wie mit dem Kohlebergbau, den es einst in Penzberg gab. „Wenn man das außerhalb der Stadt erzählt, glaubt einem das keiner.“ Zu den Exponaten, die sie gesammelt hat, zählen viele alte Zeitungsartikel und Autogrammkarten, die der Enkel des „Elfemeterschießerfinders“ immer noch verteilt.
Die Ausstellung bezeichnet Oesterle als „dreiblättriges Kleeblatt“. Blatt zwei soll die Geschichte des 1. FC Penzberg beleuchten, der 1920 gegründet wurde. „Es freut mich, dass wir wieder mit einem Penzberger Verein kooperieren, wie 2014 mit der Stadt- und Bergknappenkapelle“, sagt Oesterle. Und Andreas Rauchberger vom Festkomitee des 1. FC Penzberg nennt die Ausstellung „einen absoluten Segen für uns“. In der Vorbereitung habe er viel über die Geschichte des Vereins gelernt, der in der Saison 1955/1956 in der zweiten Liga spielte. „Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, was für eine Aufregung das war“, sagt Rauchberger. Oesterle ergänzt, dass damals bei den Spielen gegen den FC Bayern, gegen den die Penzberger in jener Saison zweimal unglücklich verloren haben, 7000 Besucher in der Bergarbeiterstadt und 20 000 im Grünwalder Stadion zugesehen haben. Das habe ihr der Archivar der Bayern berichtet. Die Ausstellung solle nicht nur skurrile Begebenheiten und große Persönlichkeiten der Vereinsgeschichte aufzeigen, sondern auch die Bedeutung des Fußballs als „Integrationsfaktor“ in der Bergarbeiterstadt würdigen, erklärt die Museumsleiterin.
Allerdings suchen die Macher noch ein paar Ausstellungsstücke, weshalb sie nun bei der Bevölkerung um Hilfe bitten. „Wir haben viele Zeitungsartikel und Fotografien, aber eigentlich nur Flachware“, sagt Oesterle. „Uns fehlen dreidimensionale Exponate.“ Alte Trikots und Fußballschuhe sollen die Ausstellung plastischer machen und die Fußballgeschichte auch als „eine Art Designgeschichte“ vor Augen führen. Deshalb ruft Oesterle zusammen mit dem Vereinsvorsitzenden Joachim Plankensteiner alle dazu auf, „in der Kiste vom Opa“ oder auf dem Dachboden zu wühlen, ob sich nicht Leihgaben aus vergangenen Zeiten des Klubs finden. „Wir wären froh und dankbar, wenn uns die Bevölkerung unterstützen würde“, erklären sie. Auch wer persönliche Geschichten erzählen könne, solle sich ans Museum wenden, bittet Oesterle. „Wir wollen auch Zeitzeugengespräche konservieren.“
Das dritte „Kleeblatt“ widmet sich dem Fußball in der Kunst. „Wir sind ja ein Kunstmuseum“, sagt Leiterin Oesterle. Ihre Kollegin Anne Goetzelmann habe deshalb recherchiert, welche zeitgenössischen Künstler sich mit dem Thema Fußball befasst haben – und erfolgreiche Rückmeldungen bekommen. „Wir freuen uns riesig, dass uns viele Künstler unterstützen und auch auf Leihgebühren verzichten“, sagt Oesterle. Die Werke, die in Penzberg gezeigt werden, stammen etwa vom berühmten deutschen Fotokünstler Andreas Gursky, von Christoph Niemann, dem Grafiker der Zeitschrift New Yorker, und von der SZ-Fotografin Regina Schmeken, die die deutsche Nationalmannschaft begleitet hat. „Wir wollen auch mit Kunst auf das Universum Fußball blicken“, sagt Oesterle.
Die Ausstellung werde eine „runde Sache“, verspricht die Kuratorin passend zum Thema. Das Museum wolle damit auch ein neues Publikum erschließen – Familien „und mehr Männer“, sagt Oesterle und lacht. Die Museumsführungen der Reihe „Kunst und Wein“ sollen zwischen Ende März und Mitte Juli zu „Kunst und Bier“ werden. Und Sepp Siegert konnte bereits die Schweizer Firma Turf XL als Sponsor gewinnen, die die Museumsräume mit Kunstrasen auslegen wird.
„Ich freue mich sehr auf die Ausstellung“, sagt der 51-Jährige, der als Trainer den 1. FC Penzberg kürzlich zum bayerischen Meister in der modernen Hallenfußballvariante Futsal gemacht hat. Schließlich wird nicht nur die Geschichte seines Vereins gewürdigt, sondern auch Karl Wald, der ihn „als Mensch sehr fasziniert hat“, wie Siegert sagt. Der „Alfred Hitchcock des modernen Fußballs“, wie die Stuttgarter Nachrichten den Elfmeter-Erfinder einmal genannt haben, sei bis ins hohe Alter geistig fit und „sehr stolz auf die ganze Geschichte“ gewesen, sagt Siegert. Wald habe auf jeder Hauptversammlung genüsslich erzählt, wie er seine Idee 1970 beim Fußballverband durchsetzt habe. Und auch immer wieder, dass ihm die Regeln beim Mopedfahren eingefallen seien. Siegert ist es ein Anliegen, den gebürtigen Frankfurter, der in den 1940er-Jahren nach Penzberg kam, bekannter zu machen. Die Profis in den großen Arenen wüssten schließlich meist nicht, wem sie den großen Krimi am Schluss zu verdanken hätten. Einmal habe er einen Trainerlehrgang mit Lothar Matthäus und Mehmet Scholl gemacht, erzählt Siegert. Beim Mittagessen in der Runde habe er dann gefragt, wer das Elfmeterschießen erfunden habe. „Keiner hat es gewusst, das war wirklich erschreckend“, sagt der Penzberger. „Da haben sogar Matthäus und Scholl etwas von mir lernen können.“
Wer alte Trikots, Fußballschuhe oder andere Exponate aus der Geschichte des 1. FC Penzberg hat, soll sich per E-Mail an museum@penzberg.de oder unter Telefon 0885/813-125 melden
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