Nicht mal 40 Stühle passen in den ersten Stock des „Red Lion“, das gleich gegenüber der Downing Street gelegene Pub. An diesem Abend hat der Wirt zugemacht, denn zu wild könnte es auf den Straßen von Westminster zugehen, wo in dieser Nacht nach 47 Jahren das Ende der EU-Mitgliedschaft gefeiert wie betrauert wird. Aber den Raum über der Schankwirtschaft kann durch eine Seitentür erreichen, wer auf der Gästeliste steht oder eine der wenigen Karten bekommen hat. Denn das Brexit-entzückte Publikum will drei Stars dieser britischen Stunde Null sehen: Allison Pearson, eine auch in Deutschland bekannte Autorin und für den „Daily Telegraph“ glühende Pro-Brexit-Kolumnistin. Mark Francois, Speerspitze der Hardliner in der Tory-Fraktion mit ausgeprägter Antipathie für Deutschland. Und natürlich Mister Brexit, Nigel Farage.
„Wir wären fast zur Bananenrepublik verkommen, weil wir nicht den Willen des Volkes umzusetzen schafften“, freut sich Pearson und wärmt sich mit Gin&Tonic für diesen historischen Abend auf. „Wenn die Sonne morgen früh aufgeht, dann werden wir ein freies Land sein“, philosophiert der Abgeordnete Francois. Und Nigel Farage verrät, was sein Erfolgsgeheimnis war: „Ich wusste immer, wenn wir das Thema Einwanderung verbinden können mit unserer EU-Mitgliedschaft – dann können wir gewinnen“.
„Ich werde alles tun, um dieses Imperium zu stürzen“
Für den ehemaligen Chef der Anti-EU-Partei Ukip und Gründer der Brexit Party hört die Mission mit dem 31. Januar 2020 aber nicht auf. Farages Weg soll wieder auf den Kontinent führen, wie er auf Nachfrage erklärt. „Ich habe schon Einladungen aus Hauptstädten in Europa, um dort zu sprechen.“
Seitdem Franzosen und Niederländer 2005 die Europäische Verfassung ablehnten und Brüssel der EU deshalb den Vertrag von Lissabon „aufgezwungen“ habe, „war ich sicher, dass nicht nur das Vereinigte Königreich, sondern ganz Europa die EU verlassen sollte. Und ich werde alles dafür tun, um dieses Imperium zu stürzen.“ Wenn der Brexit zum Erfolg werde, so Farage, werde das eine leichte Aufgabe.
Draußen auf Whitehall wird es derweil lauter. Im Nieselregen versammeln sich bei wenig winterlichen Temperaturen am Parliament Square immer mehr Menschen. Die meisten sind Touristen und Schaulustige, die diesen historischen Moment am Ort politischer Entscheidungsschlachten erleben wollen. Der Kern der Brexit-Fans hat sich flaggenschwenkend vor der Bühne versammelt.
Die „Bastarde“ haben ihr Ziel erreicht
Über die Westminster Bridge geht es in ein paar Minuten hinüber in ein abgetakeltes Luxushotel, wo die Bow Group den ersehnten Tag feiert. 1951 gegründet, ist sie die älteste Denkfabrik der Konservativen Partei, vor allem aber politische Heimstatt der „Bastarde“. So nannte der damalige Premier John Major jene Abgeordneten, die gegen den Vertrag von Maastricht 1992 rebellierten und Major das Leben zur Hölle machten. Jetzt, fast 30 Jahre später, sind sie am Ziel.
Ein paar Dutzend Erz-Brexiteers, die Krawatten oder aber Fliege in den Nationalfarben tragen, in ihrer Mehrheit das Pensionsalter erreicht haben und aufgedreht auf 23 Uhr britischer Zeit warten. Eine ältere Dame hat sich sogar einen Hut gebastelt mit den Lettern „Maastricht Rebellen sind Helden.“
An einem Tisch sitzt Alan Sked. Er ist so was wie der Bernd Lucke der britischen Euroskeptiker. Bis vor einigen Jahren Professor an der London School of Economics, gründete Sked 1993 Ukip und war Farages Vorsitzender. „Ich gebe der EU noch fünf Jahre“, ist er überzeugt. „Jetzt wo Deutschland vor einer Wirtschaftskrise steht, wird es der Euro nicht mehr lange machen.“ Auch John Redwood ist unter diesem speziellen Publikum, omnipräsentes Gesicht der ganz harten Brexit-Verfechter im Unterhaus. Bevor er wie die anderen hinaus auf die Westminster Bridge geht, um Schlag elf den Brexit-Moment am Big Ben mitzuerleben, schwenkt Redwood einen Union Jack und ruft in den Saal: „Wir werden die Welt sehr bald wieder daran erinnern, wofür diese Flagge steht.“
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