Auf die Frage, wie ihr achtjähriger Sohn mit der erzwungenen Schulpause zurechtkommt, würde Aamira K.* gerne sagen: alles bestens. Doch nichts ist bestens. „Es ist schrecklich“, sagt die alleinerziehende Mutter. Per Mail bekommt sie von der Schule die Aufgaben zugeschickt, die sie mit ihrem Sohn machen soll. „Doch ich komme kaum dazu.“
Normalerweise besucht ihr Sohn Markus* die zweite Klasse einer Münchner Grundschule und anschließend bis zum späten Nachmittag den Hort. Doch seit die Schulen in Bayern vor gut zwei Wochen wegen der Corona-Epidemie dicht machten, ist alles anders. An den ersten Tagen der Zwangspause habe sie regulär in der Firma arbeiten müssen. Inklusive Arbeitsweg sei sie meist mehr als neun Stunden am Tag unterwegs. „Am Abend sind der Junge und ich dann kaum noch in der Lage, uns zu konzentrieren.“
Einen großen Teil der vergangenen beiden Wochen war sie wegen einer Erkältung zuhause. Aber auch in dieser Zeit hätten beide nur einen Teil der Aufgaben erledigen können. „Das geht schon damit los, dass ich keinen Drucker habe“, sagt die 33-Jährige, deren Gehalt gerade für die Miete und das Allernötigste reicht. „Als ich mich deshalb an die Lehrerin wandte, sagte die nur, ich soll die Aufgaben eben woanders ausdrucken.“ Doch zu Freunden darf sie wegen der in Bayern besonders strengen Kontaktsperre nicht, Internetcafés oder Bibliotheken sind geschlossen.
Also schrieb und zeichnete sie die Aufgaben so weit wie irgendwie möglich selbst ab. „Leider habe ich manche Aufgabe aber nicht einmal verstanden“, sagt sie. Normalerweise mache Markus die Hausaufgaben im Hort. „Er ist ohnehin kein guter Schüler. Aber jetzt habe ich Angst, dass er den Anschluss ganz verliert.“ Ab dieser Woche muss sie wieder arbeiten. „Mein Chef hat mir ansonsten mit ernsten Konsequenzen gedroht“, sagt Aamira K. Markus sei dann bei seinem Vater. „Doch dort wird er kaum Aufgaben machen. Sein Papa ist Koch, Bildung ist ihm nicht wichtig.“
„Vorhandene Ungleichheiten werden sich massiv verstärken“
Auch anderswo in der Republik drohen offenbar gerade viele Schülerinnen und Schüler, den Anschluss zu verlieren. llka Hoffmann, Schulexpertin der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), geht davon aus, dass viele Eltern aus ärmeren und insbesondere bildungsfernen Schichten mit der aktuellen Situation überfordert sind. „Während viele Akademikerfamilien trotz Homeoffice in der Lage sind, ihren Kindern bei den Aufgaben zu helfen und diese zu motivieren, können viele Mütter und Väter aus prekären Verhältnissen das nicht.“ Es gebe nicht wenige Familien, da laufe jetzt rund um die Uhr der Fernseher oder es fehle schlicht an einem Platz zum ruhigen Lernen.
Vor Corona hätten Kinder in den Schulen und Horten alle dieselben professionellen Pädagogen oder Erzieher gehabt, die sie unterrichteten oder mit ihnen Hausaufgaben machten. „Zumindest ein Teil der Benachteiligungen konnte so ausgeglichen werden. Das fehlt jetzt“, sagt Hoffmann. Für sie ist klar: „Die schon vorhandenen Ungleichheiten werden sich massiv verstärken.“ Dauere die Situation noch länger als bis Mitte April, wäre dies „eine Katastrophe für die Bildungschancen vieler Kinder“.
Laut dem Verband Bildung und Erziehung sind von den gut 8,3 Millionen Schülern in Deutschland etwa 2,4 Millionen von Armut und sozialer Abgrenzung bedroht. Da fehle es oft schon an den technischen Voraussetzungen wie Computern oder eben einem Drucker, sagt Klaus Hurrelmann, Professor an der Hertie School of Governance in Berlin. Der Sozial- und Bildungsforscher kritisiert, dass es in keinem Bundesland ein wirklich funktionierendes Angebot für Online-Unterricht gebe. Tatsächlich sind die vorhandenen Internet-Lernplattformen zumindest teilweise heillos überlastet und stürzen oft ab. Viele Schulen schicken den Lernstoff ohnehin per Mail. „Es rächt sich nun, dass der Digitalpakt nicht früher umgesetzt wurde – dann würde die Technik laufen und auch Kinder aus ärmeren Familien hätten jetzt die nötige Technik für Live-Unterricht mit dem Lehrer“, sagt Hurrelmann. Es brauche ein bundesweit einheitliches Portal für den Internetunterricht.
Aber die technischen Probleme seien nur ein Aspekt der Benachteiligung von Schülern aus ärmeren Familien, sagt Hurrelmann. Um zumindest das Problem fehlender Drucker oder Computer zu umgehen, könnten Schulen die Unterlagen manchen Schülern in Papierform zukommen lassen. Manche Schulen machen dies bereits. Andere strukturelle Benachteiligungen seien weniger einfach auszugleichen, so Hurrelmann. „Die Einstellung zur Bildung ist in vielen Elternhäusern je nach Schichtzugehörigkeit oft eine andere.“ Erachten die Eltern das Erledigen der Schulaufgaben als nicht so wichtig, übertrage sich dies auch auf die Kinder. „Manche Eltern denken, die Kinder lernen ja auch etwas, wenn sie auf der Couch sitzen und Playstation spielen.“
Die „Sommerschmelze“ belegt das Problem
Deutsche Langzeitstudien zu den Folgen von Schulabstinenz gibt es wegen der Schulpflicht zwar nicht. Doch es gibt Tests, wie die Kinder vor Beginn und nach Ende der Sommerferien abschneiden. „Diese sogenannte Sommerschmelze ist bei bildungsfernen Schichten besonders groß, während es bei Kindern aus besseren Elternhäusern zum Teil sogar einen Zuwachs an Kompetenzen gibt“, sagt Ludger Wößmann, Leiter des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik in München. Würden Kinder über einen längeren Zeitraum vor dem Fernseher oder dem Handy geparkt, könne dies „fatale Folgen für ihre Entwicklung haben“.
Ein weiterer Verlierer der Zwangspause sei wohl ein Teil der Migrantenfamilien. Denn Kinder aus Zuwanderfamilien würden in der Schule besonders gut Deutsch lernen. „Und der Spracherwerb ist der Schlüssel für das Lernen in vielen Bereichen“, so Wößmann. Auch Hurrelmann nennt Kinder mit Migrationshintergrund eine Gruppe, die nun besonders gefährdet sei, abgehängt zu werden. „Natürlich kommt es darauf an, ob die Unterbrechung nun Wochen oder sogar Monate geht.“ Die soziale Schere werde aber bereits nach einigen Wochen auseinandergehen.
Besonders herausfordernd ist die Situation auch für größere Familien. „Wie sollen denn berufstätige Familien in Großstädten, wenn vier Kinder in zwei Zimmern wohnen, die Ruhe und die Zeit finden, mit jedem zwei Stunden Schularbeit zu machen?“, fragt Hurrelmann. Patricia Arndt vom Verband kinderreicher Familien sieht einen Teil der Mehrkindfamilien benachteiligt: „Manche sind derzeit am Limit.“
Drei Kinder in einem Zimmer
Auch Familie Bärligea muss derzeit logistisch einiges stemmen. Zwei Jungs und ein Mädchen zwischen drei und sieben Jahren leben in einem Kinderzimmer einer Münchner Stadtwohnung. Vater Ralph, derzeit im Home Office, sagt: „Seit Beginn der Coronakrise kann meine Frau nicht mehr arbeiten. Nur so funktioniert das hier.“ Das sei auch finanziell eine große Belastung. „Irgendwie schaffen wir es aber, dass unser ältester Sohn die Schulaufgaben alle macht“, sagt der Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Der siebenjährige Sohn bearbeite die Lernblätter in der Küche, wenn seine kleineren Geschwister schliefen oder im Kinderzimmer spielten.
Besonders schwierig ist die Situation derzeit für kinderreiche arme Familien. Gerade, wenn mehrere Kinder im schulpflichtigen Alter sind. Experten raten Lehrern in diesen Fällen, so weit wie möglich den Kontakt zu halten. Viele tun dies auch – doch nicht nur wegen des grassierenden Personalmangels stoßen sie dabei an Grenzen. So berichtet Gewerkschafterin Hoffmann von einem Lehrer aus Neukölln, der sie angerufen habe. „Er erreicht viele Eltern gar nicht.“ Manche Väter und Mütter hätten schon nach kurzer Zeit wieder eine neue Handynummer. „Andere Eltern verstehen die Lehrer nicht oder haben massive Existenzängste“, sagt die Gewerkschafterin.
Hoffmann empfiehlt den Schulen, die Aufgaben so zu beschränken, dass die Zeit zu deren Lösung nicht mehr als zwei Stunden dauere: „Beim Stoffumfang ist jetzt weniger mehr.“ Dass zumindest einzelne Schulen den ganz normalen Lehrplan umsetzen wollen, kann sie nicht nachvollziehen. „Das ist ja auch schon für viele Mittelstandsfamilien zu viel.“ Sie ist überzeugt: „Nun rächt sich die Sparpolitik bei der Bildung. Man hätte aber auch in allen Schulen das selbstständige Lernen mehr fördern müssen.“
Das Land Thüringen kündigte auf Anfrage des SPIEGEL an, die sozialen Auswirkungen der Schulschließungen stärker berücksichtigen zu wollen. Niedersachsen will beim „digitalen Lernen das Tempo anziehen“. Schneller als bislang geplant werde nun die niedersächsische Bildungscloud flächendeckend eingeführt, so ein Sprecher des Kultusministeriums.
Bayerns Kultusministerium beruhigt derweil besorgte Eltern. Es bestehe „nicht der Anspruch, dass Eltern mit ihren Kindern neuen Stoff durchnehmen, der später als Wissen vorausgesetzt wird.“ Das Lernen zuhause diene in erster Linie dazu, den Kindern auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen eine Struktur und eine sinnvolle Beschäftigung zu geben. Minister Michael Piazolo (FW) sagt: „Eltern sind keine Ersatzlehrer.“ Niemand dürfe überfordert werden. Doch die Überforderung mancher Eltern wird wohl erst enden, wenn die Schule wieder beginnt.
*Name geändert
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