Zahlen und Schaubilder, die es in sich haben, präsentiert Deborah Birx, die Corona-Koordinatorin von Präsident Trump, am Dienstagabend im Weißen Haus. Birx führt der amerikanischen Öffentlichkeit im James S. Brady Briefing Room Modelle vor, die ihr das potenzielle Ausmaß der Pandemie schonungslos vor Augen führen.
Immer wieder lässt sie Kurvenverläufe zeigen, erläutert sie. Es handelt sich um jene Ziffern und Projektionen, auf deren Basis Donald Trump zuvor entschieden hat: Seine zunächst auf zwei Wochen befristeten Richtlinien zum Social Distancing werden für weitere 30 Tage verlängert.
Da erscheint es schon fast wie eine Nebensache, dass die US-Regierung nun sogar mit 100.000 bis 240.000 Toten im besten Falle rechnet – nachdem am Sonntag in dieser Hinsicht noch von 100.000 bis 200.000 Opfern die Rede war.
Bester Fall, das bedeutet, die Verbreitung des tödlichen Virus kann so gut wie möglich eingedämmt werden. Im Negativ-Szenario, bei einem steilen Anstieg der Kurve, sind 1,5 bis 2,2 Millionen Tote möglich. Derzeit gibt es in den USA über 180.000 Corona-Fälle und gut 3700 registrierte Opfer.
Auf „sehr harte zwei Wochen“ mit steigenden Todeszahlen stimmt Donald Trump sein Volk ein. „Ich möchte, dass jeder Amerikaner auf die harten Tage vorbereitet ist, die vor uns liegen“, sagt er. Dies würden, bekräftigt Trump, „sehr schmerzhafte, sehr sehr schmerzhafte zwei Wochen“.
Bei den 130 Minuten am Dienstagabend im James S. Brady Briefing Room kommen allerhand Fakten ungeschminkt auf den Tisch. Es handelt sich, im Großen und Ganzen, um zwei Stunden der Wahrheit.
Trump spricht von Plage
„Es geht um Leben und Tod“, sagt Trump mit Blick auf die Richtlinien, wonach die Amerikaner Abstand zueinander halten, auf Reisen und Restaurantbesuche verzichten sollen. Von einer „Plage“ spricht der Präsident, ein biblisches Wort verwendend.
Trump ist ein Mann, der sich von Bildern leiten lässt. Immer wieder bezieht er sich darauf, was er im Fernsehen gesehen hat. So die Bilder vom Elmhurst Hospital im New Yorker Stadtteil Queens, jener Gegend, in der Trump aufgewachsen ist.
Das Krankenhaus ist das Epizentrum der Krise. Die Tapferkeit der Ärzte und Krankenschwestern sei unglaublich, sagt Trump: „Es ist, als würden Militärs in die Schlacht ziehen, in den Krieg ziehen.“
Sachlich, eben wie eine Wissenschaftlerin, aber doch anschaulich, präsentiert Deborah Birx die Projektionen der Krise. 100.000 bis 240.000 Tote bei einem guten Verlauf. Also mit einer erfolgreichen Eindämmung, mit einer flachen Kurve.
Das wären bis zu doppelt so viele Tote wie die Amerikaner im Vietnam- und im Koreakrieg zusammen zu beklagen hatten. Und ein Vielfaches mehr an Opfern als die USA im Irak-Krieg (4500) oder in Afghanistan (2300) hinnehmen mussten.
Im schlimmsten Fall bis zu 2,2 Millionen Tote
Sogar bis zu 2,2 Millionen Tote infolge von Corona könnte es im negativen Fall geben, sagt Birx. Noch entscheidender aber ist eine andere ihrer Feststellungen: „Es gibt keine Wunderwaffe. Es gibt keinen Zauber-Impfstoff, keine Zauber-Therapie.“
Diese ungeschminkte Wahrheit von Birx ist wohl auch ein Wink mit dem Zaunpfahl gegenüber dem Präsidenten, der zuvor mehrfach ein Anti-Malaria-Medikament als Mittel gegen das Virus empfohlen hat. Birx aber ist hier wenig erfolgreich: Im Verlaufe des Abends wird Trump wieder über die Wirkung von Hydroxychloroquine spekulieren – während entsprechende klinische Studien andauern. Das amerikanische Zentrum für Seuchenbekämpfung stellt klar, dass es bisher keine Medikamente gibt, die speziell für die Behandlung von Patienten mit COVID-19 zugelassen seien.
Immerhin: Die Richtlinien zur sozialen Distanz, gültig seit gut zwei Wochen, hätten ganz klar einen Effekt, sagt der Epidemiologe Anthony Fauci, der Direktor des Zentrums für Seuchenbekämpfung. Gerade jetzt aber dürfe man auf die Eindämmung nicht verzichten, appelliert er am Dienstagabend.
Die Fortsetzung der Maßnahmen zur sozialen Distanz ist maßgeblich auf Fauci und Birx zurückzuführen. Sie haben Trump überzeugt. Er wisse, dass diese Phase hart sei, sagt Fauci, aber man müsse sich „jetzt zusammenreißen“.
Wie wahrscheinlich denn 100.000 Tote seien, fragt ein Reporter Fauci. „Wir sollten darauf vorbereitet sein“, antwortet der Mediziner: „Wir gehen durch einen sehr, sehr schwere Zeit.“
Schnelles Handeln zeigt Erfolg
Immer wieder verweisen Birx und Fauci auf die Bundesstaaten Washington und Kalifornien, wo es die ersten Corona-Fälle gegeben hat. In ihnen verläuft die Kurve der Corona-Fälle ziemlich flach. „Diese beiden Staaten haben sehr früh reagiert“, sagt Birx, „und haben nun einen geringen Anstieg.“
Kurzum: Schnelles Handeln und social distancing wirken. New York ist das traurige Gegenbeispiel, mit einer steigenden Sterblichkeit vergleichbar mit Italien, wie Birx sagt.
Zeigt nicht all das, wie gefährlich das wochenlange Kleinreden des Virus durch Trump war? Offenbart es nicht, dass sein zeitweiliges Liebäugeln mit der Aufhebung der Beschränkungen verantwortungslos war? Donald Trump kann über dieses Thema reden, ohne nur den Hauch einer Selbstkritik zu offenbaren.
„Ich hatte viele Freunde, Geschäftsleute, Leute mit viel gesundem Menschenverstand, die sagten: Warum sitzen wir es nicht aus?“ Trump stellt das geradezu verdutzt fest, nachdem er noch neulich genau dies erwogen hatte. „Wir können nicht zulassen, dass die Heilung schlimmer ist als das Problem selbst“, so klang das.
Trumps Eindrücke aus dem Fernsehen
Hier aber kommen wieder die Fernseh-Bilder und persönliche Schicksale ins Spiel, die den mächtigsten Mann der Welt haben umdenken lassen. Wiederholt schildert Trump völlig entsetzt, dass er Bilder von New Yorks Fifth Avenue gesehen habe: „Jetzt kann man dort den Asphalt sehen. Da war niemand, da war nur ein Auto.“ Er klingt glaubhaft entsetzt.
Außerdem berichtet Trump von einem Freund, der nun im Krankenhaus liege, ein „harter Kerl“, wenn auch „etwas älter und schwerer“. Dieser Freund sein ins Koma gefallen. „Das ist nicht die Grippe“, sagt Trump über Corona. Er wiederholt diesen Satz gleich noch einmal, das wirkt so, als müsse er ihn selbst noch verdauen: „Das ist nicht die Grippe.“
Vor drei Wochen klang das noch ganz anders. „Im vergangenen Jahr starben 37.000 Amerikaner an der gewöhnlichen Grippe“, twitterte Trump da.
Im Schnitt fielen ihr zwischen 27.000 und 70.000 Menschen pro Jahr zum Opfer. Nichts werde wegen der Grippe stillgelegt, „das Leben und die Wirtschaft gehen weiter“, so Trump damals: „Im Moment gibt es 546 bestätigte Fälle des Corona-Virus, mit 22 Todesfällen. Denken Sie darüber nach!“
Man hört den Präsidenten gewissermaßen schon jetzt im Wahlkampf darüber sinnieren, wie viele Millionen Menschenleben er gerettet habe. Dabei vermeidet es Trump auch andere Fehleinschätzungen und Versprechen zu wiederholen.
Etwa seinen Satz vom 6. März, wonach „jeder, der einen Test will, einen bekommt“. Ein Fox-Reporter will wissen, wann jeder, der es wolle, einen Test bekomme. Trump aber vermeidet eine neuerliche Festlegung.
1,1 Millionen Tests durchgeführt
Vier Millionen Test bis Mitte März hatte Vizepräsident Mike Pence vor drei Wochen in Aussicht gestellt. Am Dienstagabend verweist er auf 1,1 Millionen durchgeführte Test. Diese Tests seien besser als alle anderen, relativiert er die Lage. Und: Man werde das Tempo beschleunigen.
Doch selbst Ärzte und Klinikpersonal können oft nicht auf Corona getestet werden. Der „weltweite Rekord“ an Tests, den Trump stets beschwört, ist angesichts von 330 Millionen Einwohnern relativ. Pro Kopf haben die USA weniger Menschen getestet als andere Länder.
Über zwei Stunden lang sind Trump, Pence, Birx und Fauci am Dienstag im Briefing Room des Weißen Hauses zugegen. Von zwei, „vielleicht drei“ bevorstehenden Wochen, die man noch nie erlebt habe, spricht Trump. Und nachdem er mal wieder politische Gegner beschimpft und über das einstige Impeachment-Verfahren geklagt hat, findet er noch einen sehr eigenen Zugang zur Krise.
„Es ist ein unglaublich dunkles Thema“, sagt Trump, bevor er das Rednerpult verlässt, „ein unglaublich schreckliches Thema. Und es ist unglaublich interessant.“ Deshalb seien, sagt er mit Blick auf die Journalisten, alle da: „Sie werden verrückt, sie können nicht genug davon bekommen.“
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