Seit mehr als zehn Jahren hat sich an den Steuersätzen des Einkommensteuertarifs nichts geändert: Der Eingangssteuersatz liegt bei 14 Prozent, der Spitzensteuersatz bei 42 Prozent, Leute mit sehr hohem Einkommen müssen auf die letzten Euros ihres Einkommens 45 Prozent an den Fiskus zahlen – den Reichensteuersatz. Und am Ende gibt es noch den Solidaritätszuschlag in Höhe von 5,5 Prozent der zu zahlenden Steuern obendrauf.
Doch ein Jahr vor der Bundestagswahl kommt Bewegung in die Prozente. Nicht nur, dass ab Januar für viele Menschen der Solidaritätszuschlag wegfällt. Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz will Einkommen ab 200.000 Euro in Zukunft stärker als bislang belasten, sagte er im WELT-AM-SONNTAG-Interview. Wer ein paar 100.000 Euro Jahresgehalt habe, könne einen etwas größeren Beitrag als heute zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.
Scholz geht es weniger um die Gewinnung zusätzlicher Steuereinnahmen angesichts gewaltiger Löcher im Haushalt, sondern „in erster Linie um Leistungsgerechtigkeit“, wie er sagte. Der heutige Spitzensteuersatz solle erst bei höheren Einkommen als heute wirksam werden, um „untere und mittlere Einkommen netto zu stärken“. Im Gegenzug solle der Steuersatz für sehr hohe Gehälter moderat steigen. Um wie viel stärker, verriet Scholz nicht.
Nicht nur bei der SPD wird derzeit noch an den Details des Steuerkonzepts gearbeitet, mit dem die Partei in den Wahlkampf gehen will. Schon kleinste Änderungen am Einkommensteuertarif haben eine gewaltige Wirkung.
Je nach politischem Ziel kann es zu einer 50-Milliarden-Euro-Entlastung für den Steuerzahler kommen oder zu einem neuen Spitzensteuersatz von mehr als 50 Prozent. Das zeigen Berechnungen führender Steuerexperten für WELT.
Spitzensteuersatz und Solidaritätszuschlag
Die ersten Vorschläge liegen vor. Schaut man sich die Ansätze aus den Reihen von CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP an, werden zwei gemeinsame Ziele deutlich:
Erstens sollen niedrige und mittlere Einkommen entlastet werden. Schließlich ist der Spitzensteuersatz schon lange nicht mehr Spitzenverdienern vorbehalten. Heute reicht gerade einmal das rund Zweifache des Durchschnittseinkommens, damit die ersten Euros mit dem Grenzsteuersatz von 42 Prozent belastet werden. Genau genommen gilt dies für Singles derzeit für jeden Euro oberhalb eines zu versteuernden Einkommens von 57.000 Euro.
Das zweite Ziel ist, den Solidaritätszuschlag auch für höhere Einkommensgruppen abzuschaffen. Dabei geht es nicht darum, Steuerzahler mit höheren Einkommen zu schonen. Der Grund ist vielmehr, dass das Bundesverfassungsgericht dem vor 30 Jahren eingeführten Solidaritätszuschlag früher oder später ohnehin seine Daseinsberechtigung absprechen könnte. Deshalb soll der Zuschlag in den Einkommensteuertarif integriert werden.
Von der SPD gibt es aktuell einen Vorschlag, in dem konkrete Prozentzahlen und Einkommensgrenzen stehen, nämlich vom Seeheimer Kreis, einer Gruppe „pragmatischer SPD-Politiker“, wie Kanzlerkandidat Scholz sie nennt, was eine gewisse Sympathie erkennen lässt.
Modelle von Union und SPD
Demnach soll der derzeitige Spitzensteuersatz von 42 Prozent für Singles erst ab einem zu versteuernden Einkommen von 90.000 Euro statt 57.000 Euro greifen. Bei Paaren ist es das Doppelte. Stichwort: Entlastung niedriger und mittlerer Einkommen.
Ab einem Einkommen von 125.000 Euro soll der Spitzensteuersatz auf 45 Prozent steigen. Auf Einkommen oberhalb von 250.000 Euro will der Seeheimer Kreis den Steuersatz dann sogar auf 49 Prozent anheben. Der bisherige Reichensteuersatz von 45 Prozent fällt erst für jeden zusätzlichen Euro ab 270.000 Euro an.
In den Reihen von CDU und CSU kursiert schon seit Monaten ein Papier der beiden Abgeordneten Fritz Güntzler (CDU) und Sebastian Brehm (CSU).
Sie wollen zur Entlastung der unteren Einkommen die erste Tarifgrenze anheben und den 42-Prozent-Spitzensteuersatz erst bei 80.000 Euro statt 57.000 Euro wirken lassen. Ab einem zu versteuernden Einkommen von 150.000 Euro sollen es 44 Prozent sein, ab 250.000 Euro dann 47 Prozent.
Stefan Bach, Steuerexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hat nachgerechnet, welche Folgen die beiden Vorschläge aus den Reihen der großen Koalition auf die Einnahmen des Staates hätten: „Das Seeheimer Modell kostet zunächst einmal 20,5 Milliarden Euro im Jahr“, sagt er.
Hinzu kämen rund 2,5 Milliarden Euro geringere Abgeltung- und Körperschaftsteuer – fällt der Soli komplett weg, wird er auch auf diese Steuerarten nicht mehr erhoben.
Bedenken müsse man zudem, dass, wenn den Menschen mehr von ihrem Einkommen bleibe, sie mehr Geld ausgeben könnten, wodurch die Mehrwertsteuer-Einnahmen des Staates steigen. Hier setzt Bach zusätzlich Einnahmen von bis zu vier Milliarden Euro im Jahr an.
Unter dem Strich bliebe eine jährliche Entlastung des Steuerzahlers oder Belastung der Haushaltskasse von knapp 20 Milliarden Euro bei dem Modell der Seeheimer.
CDU/CSU-Vorschlag bringt 50 Milliarden Entlastung
Auf eine jährliche Entlastung in Höhe von „mehr als 15 Milliarden“ kommt auch Tobias Hentze, Steuerexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), der sich das Modell der SPD-Politiker ebenfalls angeschaut hat.
Eine deutlich größere Veränderung brächte der Vorschlag von Güntzler/Brehm aus dem Unionslager. Bach schätzt die Entlastung bei diesem Modell auf bis zu 45 Milliarden Euro plus wiederum die 2,5 Milliarden Euro wegfallende Abgeltung- und Körperschaftsteuer. Sogar auf 50 Milliarden Euro kommt hier Hentze.
Der Steuerexperte des IW hat sich auch angeschaut, ab welchem zu versteuernden Einkommen der einzelne Bürger entlastet oder belastet wird. Demnach bliebe bei dem Modell des Seeheimer-Kreises bis zu einem zu versteuernden Einkommen von rund 150.000 Euro in jedem Fall mehr vom Bruttogehalt übrig.
Bei dem Vorstoß aus dem CDU/CSU-Lager hätten laut Hentze alle Einkommensbezieher mindestens bis zu einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 300.000 Euro künftig mehr Netto vom Brutto. Das klingt danach, dass so gut wie jeder profitieren würde.
Hentze gibt allerdings zu bedenken, dass den Spitzensteuersatz nicht nur gut verdienende Arbeitnehmer, sondern auch Personengesellschaften, also Unternehmer zahlen. Sie würden bei einer zu starken Anhebung des Spitzensteuersatzes gegenüber Kapitalgesellschaften schlechter gestellt.
Grüne ersetzen Soli durch hohen Spitzensteuersatz
Als weitgehend aufkommensneutral wird von den Steuerexperten Bach und Hentze ein Modell der grünen Landesfinanzminister von Baden-Württemberg, Bremen und Schleswig-Holstein angesehen.
Als Ausgleich für den komplett wegfallenden Soli soll der Spitzensteuersatz von derzeit 42 auf 48 Prozent erhöht werden, allerdings erst ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 150.000 Euro für Einzelpersonen und entsprechend 300.000 Euro für Paare.
Untere und mittlere Einkommen sollen lediglich von einer Erhöhung des Arbeitnehmer-Pauschbetrags von 1000 Euro auf 1500 Euro profitieren. Die Wirkung dieser Erhöhung hängt stark vom Einzelfall ab. Dies hat beispielsweise für all jene keine Folgen, die heute schon als Pendler höhere Werbungskosten geltend machen.
Auch die FDP hat ein Modell vorgelegt, mit dem sie in den Wahlkampf gehen will. Nach Parteiangaben soll die geplante schrittweise Abschaffung des sogenannten Mittelstandsbauchs in der Einkommenstarifkurve über drei Jahre Steuerzahler im ersten Jahr um 16 Milliarden Euro entlasten.
Zudem soll der Spitzensteuersatz erst ab 70.000 Euro greifen. Entlastungswirkung pro Jahr: weitere neun Milliarden Euro. Hinzu kommen zehn Milliarden Euro Entlastung durch die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Das macht summa summarum 35 Milliarden Euro.
Entlastung, ja oder nein?
Die Berechnungen bergen eine Menge Streitpotenzial für den nahenden Bundestagswahlkampf. Zumal die Corona-Krise die Ausgangslage verändert hat. Statt üppig gefüllter Kassen durch einen jahrelangen Konjunkturaufschwung klaffen in der Finanzplanung von Finanzminister Scholz für die nächste Legislaturperiode Milliardenlücken.
Kann es da überhaupt noch eine Entlastung geben? Oder müssen Bürger und Unternehmen gerade deshalb schleunigst entlastet werden, damit die Wirtschaft wieder richtig starten kann und die Steuereinnahmen zumindest mittelfristig wieder sprudeln?
Entlasten oder belasten, wen und wie stark? Das ist die Frage, auf die in den kommenden Monaten alle Parteien eine Antwort finden wollen. Dafür kann die Tarifkurve über die Einkommensgruppen hinweg flacher oder steiler gelegt und neue Prozentstufen eingebaut werden.
Dabei ist zu beachten, dass auch Hocheinkommensbezieher einen Niedriglohnbereich haben. Auch sie profitieren von höheren Freibeträgen oder niedrigen Grenzsteuersätzen auf den unteren Teil ihres Einkommens. Das bedeutet, dass eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes nicht zwangsläufig eine Mehrbelastung bedeutet. Es muss schon ein erklecklicher Teil des Einkommens mit dem Spitzensteuersatz belastet werden.
DIW-Steuerexperte Bach verdeutlicht dies mit einer Beispielrechnung: Um die mittleren Einkommensgruppen zu entlasten, den Soli vollständig zu integrieren und trotzdem Einnahmeausfälle für den Staat zu vermeiden, müsste der Spitzensteuersatz in der Einzelveranlagung ab einem zu versteuernden Einkommen von 78.100 Euro auf 51 Prozent steigen, der Reichensteuersatz sogar auf 56 Prozent. Dabei würden Steuerpflichtige bis 90.000 Euro zu versteuerndes Einkommen entlastet, die darüber belastet.
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