Recherche zu Missbrauch: Vorbei ist es nie

Es war früh am Morgen, ihr Sohn war in der Kita, ihre Tochter in der Schule. Ausnahmsweise hatte sie Zeit, zumindest für zwei, drei Stunden. Ein kleiner Ort in Oberbayern, ein Tisch vor einem großen Fenster, draußen war Winter. Wir hatten uns verabredet, um über ihre Arbeit zu reden. Das war zumindest der Plan, bis sie diesen einen Satz sagte: „Das eigentliche Problem ist ja, dass mein Mann in Haft ist.“

Warum in Haft?

Sie sagte nichts, erst einmal, und trotzdem war klar, dass sich dieses Gespräch soeben in eine ganz andere Richtung gedreht hatte, als wir beide erwartet hatten.

Ich wusste nicht viel über diese Frau, nur dass sie alleine für ihre zwei Kinder sorgen musste und zwei Jobs hatte, manchmal sogar drei. An diesem Vormittag trafen wir uns für ein Porträt. Es sollte ein Text über eine alleinerziehende Mutter werden, über ihre vollen Tage, Nächte und die Frage, wie man das aushält.

Wir sprachen am Ende nicht viel über Arbeit. Aber viel übers Aushalten.

Ich arbeitete damals, vor fünf Jahren, in einer der Lokalredaktionen der SZ. Es war klar, dass die Frau und ich uns wohl nur dieses eine Mal treffen würden, wie so oft im Alltag einer Tageszeitung, insbesondere einer Lokalredaktion, in der man andauernd von einem Ort zum nächsten, von einer Geschichte zur nächsten springt.

Einerseits ist das faszinierend an diesem Beruf, weil man erst in der Fabrik für Briefumschläge steht, und kurz darauf schon im Proberaum eines Orchesters oder im Sprachunterricht für Geflüchtete; weil man erst dem Vorstandschef eines Konzerns gegenübersitzt, dann einer Sammlerin sonderbarer Kunststoffe oder einer Frau, die sich mit drei Jobs durchschlägt. Im Journalismus hat man das Privileg, Menschen zu treffen, die man sonst nie kennenlernen würde, an Orten, an die man sonst nie gelangen würde.

Andererseits blickt man so immer nur für einen kurzen Moment in ein Leben und zieht dann schon wieder weiter, zum nächsten Ort, zur nächsten Recherche. Auf dem Weg muss man viele Geschichten hinter sich lassen. Nicht immer gelingt das.

Manchmal erfährt man von einer Geschichte, nach der man nie gesucht hatte

Man wird als Journalistin oft gefragt, wie die Geschichten in die Zeitung finden und die Menschen, über die wir schreiben. Meistens hat man ein Thema im Kopf und macht sich auf die Suche nach Menschen, die damit verbunden sind. Man kontaktiert Vereine, Verbände, Pressestellen und Ämter, fragt nach, wartet, dass sich jemand meldet, fragt wieder nach. Der nicht seltene, aber seltenere Fall ist, dass es andersherum läuft. Dass man zufällig jemanden trifft, während man ein ganz anderes Thema recherchiert, und von einer Geschichte erfährt, nach der man nie gesucht hatte.

Die Frau, mit der ich eigentlich über ihre drei Jobs reden wollte, sagte: „Mein Mann ist in Haft, weil er meine Tochter missbraucht hat.“

Ich kann mich heute, viele Jahre später, nicht mehr genau erinnern, wie das Gespräch weiterging. Ich weiß nur noch, dass nach diesem Satz klar war, dass die zwei bis drei Stunden, zu denen wir verabredet waren, nicht für all die Fragen reichen würden, die sich aus dem Satz ergaben – und dass die Frau bereit war, sich noch einmal zu treffen, um diese Fragen zu beantworten.

13 670 Fälle von Kindesmissbrauch zählte das Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr, meistens sind die Täter keine Unbekannten, sondern Teil des Umfelds. Es kann der Chorleiter sein, der Fußballtrainer, der Schwager. Oder der Vater.

Über die Täter wird viel geredet, aber wenig über die Opfer. Wenig auch über die Menschen, die daneben stehen. Über die Brüder, Schwestern, Opas, Omas, Onkel, Tanten – und über die Mütter. Dabei sind es doch meistens die Nächsten in der Familie, bei denen die Kinder Schutz suchen. Dabei sind es sie, die verhindern können. Beenden, anzeigen. Wenn es doch einmal um diese Menschen geht, die später im Gerichtssaal hinten in den Zuschauerreihen sitzen, wird vor allem über sie gesprochen: „Wie kann die nur?“ – „Ich würde niemals …“ – „Wie kalt muss man sein, um …“

Deshalb wollte ich diese Geschichte allein aus der Perspektive der Mutter erzählen, ihren Blick auf das Verbrechen ihres Mannes, und es den Leserinnen und Lesern überlassen, ihre Schlüsse daraus zu ziehen. Die Frau wiederum sagte mir, sie wolle davon erzählen, weil ihre Geschichte vielleicht Frauen helfen könne, die sich in einer ähnlichen Situation befänden, ähnliche Entscheidungen treffen müssten.

Und so saßen wir in den nächsten Monaten immer wieder am Holztisch in ihrer Wohnung, an der rechten Wand die Bilder der Kinder, und die Frau begann zu erzählen. Wie sie ihren späteren Mann damals in der Berufsschule kennenlernte, wie sie das erste Mal ausgingen, sie sich verliebte. Wie sie zusammenzogen, heirateten und irgendwann eine Tochter bekamen, dann einen Sohn. Wie sie nichts von dem Missbrauch ahnte, wie sie sich wunderte, als später alle sagten, eine Mutter müsse so etwas doch spüren, und sie nur dachte: „Nein, man spürt nichts, gar nichts.“

Sie packte ihre Tochter ein, ihren Sohn, wollte nur noch weg

Als ihre Tochter, damals sechs Jahre alt, ihr erzählte, was „der Papa“ mit ihr mache, dass ihr Vater sie sexuell missbrauchte, reagierte die Mutter erst einmal so, wie es wohl von außen von ihr erwartet würde. Sie zweifelte nicht an dem, was ihre Tochter da sagte, packte ihre Tochter ein, ihren Sohn, wollte nur noch weg, eine Freundin holte sie ab.

Noch am selben Abend traf sie sich mit ihrem Mann, stellte ihn zur Rede. Er entschuldigte sich. Er könne sich auch nicht erklären, wie das habe passieren können. Sie konnte sich nicht erklären, wer da eigentlich vor ihr stand. Der Mann, den sie seit der Berufsschule kannte, neben dem sie jeden Abend einschlief? Der sie küsste zum Abschied, die Tochter auf den Arm nahm?

Als ich einer guten Freundin von der Recherche erzählte, weil sie mich lange umtrieb, konnte sie es kaum fassen, dass die Frau ihrem Mann tatsächlich noch eine Chance gegeben hatte. Dass sie mit den Kindern wieder nach Hause gefahren war, zurück in die Wohnung.

Die Frau hatte versucht, die Tochter zu schützen und doch die Familie zu bewahren, war mit den Kindern ins Schlafzimmer gezogen, der Vater ins Kinderzimmer. Sie hatte eine Therapie zur Bedingung gemacht, und eine Zeit lang erschien es tatsächlich so, als würden sie alle zusammenbleiben. Die Mutter, der Vater, die Tochter, der Sohn. Bis die Tochter zu ihr sagte: „Mama, der Papa hat wieder die Sachen gemacht.“

Da zeigte sie ihn an.

Ich konnte das Unverständnis meiner Freundin verstehen, die nie mit der Frau gesprochen hatte. So wie ich auch die Frau verstehen konnte, die mir gegenübersaß und von den Tagen erzählte, an denen sich für sie richtig anfühlte, was sie vorher selbst, von außen, vielleicht auch als falsch verurteilt hätte. Aber es sollte ja kein Meinungstext werden, sondern ganz im Gegenteil, eine Reportage, die die Perspektive der Mutter erzählt.

Wenn jemand seine Geschichte teilt, erwächst daraus immer eine Verantwortung, weil man als Journalistin darüber entscheidet, was am Ende geschrieben steht und was nicht, welches Detail noch Platz findet. Gerade wenn sich jemand traut, sehr Intimes zu erzählen, ist die Verantwortung noch mal größer. Es war damals klar, dass wir den echten Namen der Familie in der Zeitung nicht nennen würden, um sie zu schützen. Als die Gerichtsverhandlung anstand, hatten wir vereinbart, dass ich Kristine Fischer, wie sie im Artikel heißen sollte, an diesem Tag nicht ansprechen würde, sondern erst ein paar Tage später. Wenn alles vorbei ist, sagte sie.

Wobei eine Geschichte wie diese natürlich nie vorbei ist.

Am Tag der Veröffentlichung war Kristine Fischer nicht in der Stadt. Wir telefonierten noch einmal. Sie erzählte mir, dass ihre Schwester sie aus dem Urlaub angerufen habe: Sie habe die Zeitung am Strand gelesen und gefragt: „Die Frau aus dem Artikel, das bist du, oder?“ Bei einem anderen Treffen hatte sie einmal zu mir gesagt, dass ihre Freundinnen sie manchmal fragten, warum sie das überhaupt mache, über das Ganze noch einmal mit jemandem von der Zeitung zu sprechen. Sie habe geantwortet, vielleicht sei das ihr Weg, das Vergangene zu verarbeiten. Indem sie die Geschichte noch einmal jemand Fremdem erzähle.

Als Journalistin muss man viele der Geschichten, die man geschrieben hat, hinter sich lassen, weil sonst kein Platz wäre für neue. Manche sind nach Feierabend ohnehin schnell vergessen. Aber es gibt eben auch Geschichten, die sich im Kopf festsetzen und dort bleiben, auch lange nachdem sie gedruckt und damit zumindest für einen selbst vorbei sind.

Und dann rückt die Entlassung immer näher

Der Vater war zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, die Zeit in Untersuchungshaft wurde angerechnet, es war absehbar, dass er nicht erst sieben Jahre nach der Gerichtsverhandlung entlassen werden würde, noch dazu bei womöglich guter Führung. Ich erwischte mich manchmal dabei, wie ich mitzählte: Jetzt ist der Vater noch vier Jahre im Gefängnis. Jetzt noch zwei Jahre. Jetzt noch eins. Ich fragte mich, wie sich das wohl für die Mutter und die Tochter anfühlen musste, dass der Tag der Entlassung immer näher rückte. Aber es war eine rhetorische Frage. Wäre ja seltsam, wenn die Fremde, die man für ein paar Wochen in sein Leben gelassen hat, fünf Jahre später wieder anruft.

Oder vielleicht auch nicht?

Sommer 2020. Es klingelt, die Nummer scheint noch zu stimmen. Dann meldet sich eine Frau mit Namen, eine vertraute Stimme. Ja, sie erinnere sich, wer dran ist. Ja, sie habe Zeit.

Der Vater ihrer Tochter sei vor Kurzem entlassen worden. Er habe sich zum Glück noch nicht bei ihnen gemeldet. Ihre Tochter, heute dreizehn Jahre alt, habe schwere Jahre hinter sich, Depressionen, Schlafstörungen, solche Dinge. Manchmal habe die Tochter ihr Vorwürfe gemacht, warum sie, die Mutter, den Vater ins Gefängnis gebracht habe. Mittlerweile gehe es der Tochter ganz gut. „Ein ganz normaler Teenager.“ Sie wolle ihren Vater nur noch einmal treffen, um ihm alles hinzuwerfen, was sie ihm schon immer sagen wollte, und ihn dann nie wiedersehen.

Die Frau, der neue Freund, Tochter und Sohn leben heute als Familie zusammen, haben sich eine neue Wohnung gekauft an einem neuen Ort. Ihr gehe es wirklich recht gut, sagt die Frau, auch wenn sie sehr misstrauisch geworden sei, kaum noch jemandem vertrauen könne. Das sei nicht immer einfach für die Familie und die Freunde. Und, ja, das müsse sie schon auch sagen, es vergehe keine Woche, in der sie nicht daran denke, was passiert sei.

Sie sagt: „Vorbei ist das nie.“

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