Am Dienstag hatte Heiko Maas seinen großen Auftritt vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Weil der deutsche Außenminister derzeit in Corona-Quarantäne weilt, wandte er sich per Video-Aufzeichnung an die Delegierten der 193 UN-Mitgliedstaaten. Das hinderte ihn freilich nicht, mit Verve eine Variation seines Lieblingsthemas vorzutragen: ein neuerliches Plädoyer für den Multilateralismus.
Der SPD-Politiker ging auf nahezu sämtliche Brandherde der Welt ein: die Corona-Pandemie, das Krisendreieck Russland, Ukraine und Weißrussland, den Nahen Osten, die Sahel-Zone, Libyen, Syrien, das Klima und die erodierende Rüstungskontrolle. Überall stehe „unsere Generation vor der Wahl“, sagte Maas, entweder „allein voranzugehen, ohne Rücksicht zu nehmen“ und so das multilaterale Erbe der UN in den Wind zu schlagen. „Oder aber, dieses Erbe zu erneuern – und zu zeigen, dass die richtige Antwort auch auf die Krisen unserer Zeit mehr Solidarität lautet“. Deutschland jedenfalls sei zu internationaler Kooperation bereit.
Die entscheidende Frage lautet allerdings: Ist Deutschland überhaupt in der Lage, maßgeblich Einfluss zu nehmen? Dazu braucht es nämlich nicht nur ein Bekenntnis zur Zusammenarbeit, sondern vor allem ausreichende diplomatische, militärische und entwicklungspolitische Ressourcen – samt der Bereitschaft, diese Machtmittel planvoll einzusetzen. Vor sechs Jahren bereits hatte Ex-Bundespräsident Joachim Gauck appelliert, die Bundesrepublik müsse in der Welt „früher, entschiedener und substanzieller“ Verantwortung übernehmen. Hat die Regierung diesen Mahnruf also beherzigt?
Dieser Frage geht ein neuer Report der Münchner Sicherheitskonferenz nach. In München hatte Gauck 2014 seine Rede gehalten, deshalb sahen sich Konferenzchef Wolfgang Ischinger und sein Team nun in der Pflicht, erstmals „einen Überblick über die strategische Lage der deutschen Außenpolitik“ zu geben, wie der erfahrene Diplomat es ausdrückt.
„Wir erleben einen Epochenbruch, in dem sämtliche Gewissheiten schwinden, auf denen deutsche Außenpolitik seit Jahrzehnten fußte.“ So sei Deutschlands Geschäftsmodell als Profiteur der von den USA garantierten, regelbasierten Weltordnung obsolet, wirtschafts- wie sicherheitspolitisch. „Dennoch benehmen wir uns so, als könnten wir weiter mit dem Status quo leben“, sagt Ischinger. „Das können wir nicht. Es geht um Fragen unserer Existenz.“
Gauck war einer der ersten Leser des 118 Seiten umfassenden Papiers. Sein Fazit: Ja, es habe Fortschritte gegeben, „bei der Bewältigung von Krisen und Notlagen, der Neuausrichtung der Nato oder der Reaktion auf die Corona-Pandemie“. Dann aber folgt die Einschränkung: „Richtig ist aber auch, dass unser Engagement in einigen zentralen Bereichen bis heute hinter den Anforderungen einer veränderten Welt und den Erwartungen unserer Partner zurückbleibt. Das Ausland traut uns zuweilen mehr zu als wir uns selbst.“
Die Ergebnisse des Berichts
Zu diesem Fazit kommt auch der Report. „Deutsche Außenpolitik verändert sich – aber die Welt um uns herum verändert sich schneller“, heißt es darin. Das deutsche Engagement bleibe nicht nur hinter den Erwartungen der Verbündeten in Nato und Europäischer Union zurück: „Es entspricht auch nicht den Anforderungen, die sich aus dem strategischen Umfeld ergeben.“ Wenn fast alle Pfeiler der Außenpolitik erodierten, könnten graduelle Anpassungen keine Abhilfe mehr schaffen.
Deutschland stehe vor einer „schicksalhaften Entscheidung: Es kann sich entschlossen für eine Stärkung Europas einsetzen, um so deutsche und europäische Interessen wirksam zu verteidigen. Oder Deutschland verzichtet auf die Gestaltung des Wandels, belässt es beim Status quo und stellt sich darauf ein, dass EU-Europa zu einem Anhängsel Eurasiens mutiert, das von anderen Mächten dominiert wird.“
Allen politischen Entscheidungsträgern sei diese „weltpolitische Zeitenwende“ bewusst, dennoch: „Was bislang fehlt, ist ein von der politischen Klasse getragener Wille zu einer neuen deutschen Außenpolitik, die ein souveränes Europa erst möglich macht.“ Es brauche „nichts weniger als Wendezeiten in der deutschen Außenpolitik“.
Als Ziel wird eine deutsche Führungsrolle in der EU postuliert, die von der Mehrheit der Partner gewünscht sei. Um Europa handlungsfähig zu machen, müsse Deutschland aber zunächst auf nationaler Ebene seine strategischen Interessen definieren und seinen außenpolitischen Apparat modernisieren. Das beginne mit einer Weiterentwicklung der „strategischen Kultur“.
Notwendig erscheine ein von der Regierung regelmäßig vorzulegendes nationales Strategie-Dokument, wie es bei allen wichtigen Verbündeten üblich ist. Derzeit erscheint so ein Dokument ungefähr alle zehn Jahre. „Ein solches Papier und Zwischenberichte auf jährlicher Basis könnten Gegenstand von Debatten im Bundestag sein und dazu beitragen, in der Öffentlichkeit größeres Bewusstsein für die wichtigsten internationalen Themen zu schaffen. Zudem sollte der Bundestag unabhängig davon häufiger grundsätzlich über außenpolitische Fragen debattieren“, heißt es im Report.
Auch der Apparat der Regierung in der Außen- und Sicherheitspolitik habe sich seit den 1960er-Jahren kaum weiterentwickelt – im Gegenteil, in den internationalen Ressorts herrsche unabgestimmte Vielstimmigkeit, die Autoren sprechen von den „Berliner Disharmonikern“. Nötig sei „eine Verbesserung unseres Apparats, ob durch die systematischere Nutzung und den Ausbau des Bundessicherheitsrats oder die Schaffung neuer Koordinierungsstrukturen.“
Wo der größte Nachholbedarf besteht
Weiter müssten Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und Verteidigung durch ausreichende Ressourcen unterlegt sein: „Im langfristigen Vergleich ist der Anteil der Ausgaben für Internationales im Bundeshaushalt erheblich gesunken und der heutigen Lage nicht mehr angemessen.“ Der größte Nachholbedarf bestehe bei den Verteidigungsausgaben, aber auch die Zahl der Diplomaten sei zu niedrig. Durch die Verringerung der amerikanischen Militärpräsenz in Europa – ein Trend, der laut Report unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen anhalten wird – wüchsen die Anforderungen zusätzlich: „Deutschland wird nicht umhinkommen, mehr Ressourcen zu mobilisieren, wenn Europa außen- und verteidigungspolitisch handlungsfähig werden soll.“
Die Autoren erahnen, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie eher dazu führen werden, dass Deutschlands Ausgaben in diesem Feld kritisch überprüft werden. Von Kürzungen aber raten sie ab: „Angesichts der weltpolitischen Veränderungen sollte hier nicht gespart werden, um die Grundlagen unserer Sicherheit und unseres Wohlstands nicht zu gefährden.“ Vorgeschlagen wird vielmehr eine Steigerung, nämlich Ausgaben von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für internationale Politik insgesamt. Im aktuellen Haushalt sind es rund zwei Prozent.
In Interviews mit dem außenpolitischen Spitzenpersonal der Republik fragten die Autoren des Reports auch, warum sich Deutschland mit seiner internationalen Politik so schwertut. Die Standardantwort lautete, dass eine aktivere Sicherheitspolitik der Bevölkerung nicht zu vermitteln sei und das Thema nur wenige Bürger interessiere. Aber stimmt diese Prämisse tatsächlich?
Für den Report beauftragte die Münchner Sicherheitskonferenz das Meinungsforschungsinstitut Forsa mit einer repräsentativen Umfrage zu den außen- und sicherheitspolitischen Einstellungen der Bevölkerung, die im August durchgeführt wurde. Demnach interessiert sich eine deutliche Mehrheit, nämlich 64 Prozent sehr stark oder stark für Außen- und Sicherheitspolitik.
75 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass es in den nächsten Jahren mehr Krisen und Konflikte geben wird – eine sehr realistische Einschätzung. Die Bevölkerung sei damit „in Teilen sogar weiter als Teile der breiteren politischen Elite“, so die Autoren des Reports.
Insgesamt blieben die Deutschen weltoffen und multilateral eingestellt. Und sie seien bereit für eine aktivere Außenpolitik – allerdings nur, soweit es um zivile Instrumente geht. Militäreinsätze werden mehrheitlich abgelehnt, auch Deutschlands Wirtschaftsmacht will die Mehrheit nicht außenpolitisch eingesetzt sehen. Es darf also gern mehr Einfluss sein, aber ohne den Einsatz von Machtmitteln jenseits der Diplomatie: Diese Paradoxie der öffentlichen Meinung aufzulösen, sagt Ischinger, sei „eine politische Führungsaufgabe“.
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