Formel 1: Mit dem Roller ins Neuland

Unsicherheit ist ein Gemütszustand, den es in der Formel 1 um jeden Preis zu vermeiden gilt. Im Wettrennen der Alpha-PS-Tiere sind schon Nettigkeiten verdächtig. Wenn es nach den Ingenieuren gehen würde, die gewöhnlich ein halbes Jahr vor einem Rennen aufwändige Simulationsprozesse starten, dann müsste vor Ort gar nicht mehr gefahren werden – so sicher sind sie sich bei ihren Algorithmen. Irgendwie ist es deshalb ganz beruhigend, dass Unzulänglichkeiten von Wetter, Reifen und Gegnern nicht komplett vorherzusagen sind. Aber nicht genau zu wissen, was sie erwartet, das ist für die Perfektionisten eine Umstellung.

Daran ändert im Autodromo Enzo e Dino Ferrari zu Imola auch nichts, das vor dem 13. WM-Lauf am Sonntag ganz vorn eine fast erwartbare Reihenfolge herrscht: Sebastian Vettel hat auf Rang 14 zum Beispiel nun schon zum neunten Mal die Qualifikation in die Top Ten verpasst hat. Der einzige Fahrer im Feld, der Erfahrung auf der Rennstrecke hat, die für immer mit dem schwarzen ersten Mai-Wochenende 1994, mit dem Tod von Roland Ratzenberger und Ayrton Senna verbunden ist, heißt Kimi Räikkönen. Der Finne ist mit 41 der Methusalem unter den Fahrern, aber es scheint fraglich, in wie weit er sich an sein letztes Rennen in Imola erinnert – im Jahre 2006: Gewonnen hat damals Michael Schumacher in seiner letzten Ferrari-Saison, Räikkönen wurde im McLaren Fünfter. Diesmal geht er mit seinem Alfa nur auf Position 18 in das Rennen, das auch nicht mehr als Großer Preis von San Marino firmiert, sondern den passenderen und stolzen Namen Gran Premio dell‘ Emilia Romagna trägt. Ein Bekenntnis zur Heimat, auch wenn wegen der Pandemie Zehntausende von Zuschauern kurzfristig wieder ausgeladen werden mussten.

Erst der Corona-Notkalender hat die Rückkehr auf die Piste möglich gemacht. Imola ist nach dem Nürburgring der zweite Traditionskurs in Europa, der reaktiviert worden ist. Dazu kamen in Mugello und Portimao auch ganz neue Strecken. Falls in zwei Wochen in der Türkei tatsächlich gefahren werden kann, wäre auch das für die meisten unbekanntes Terrain. Und in Bahrain soll im Dezember ebenfalls noch ein neues Streckenlayout ausprobiert werden. Noch nie gab es in einem Formel-1-Rennjahr so viel Neuland. Eine rasende Fahrt ins Ungewisse.

Die Formel 1 experimentiert mit einem neuen Format, es könnte ein Modell für die Zukunft sein

Ein echter Albtraum für die Strategen. Oder eine wunderbare Herausforderung. „Ich finde es sehr stimulierend, auf einer neuen Strecke zu fahren“, sagt Sebastian Vettel. Schade nur, dass er immer so mit seinem Auto zu kämpfen hat, da kann er sich nicht allein aufs Kennenlernen verlassen. In Imola wäre das besonders wichtig, denn an diesem Wochenende probiert die Formel 1 ein neues Format: Freitags-Trainingseinheiten gestrichen, nach 90 Minuten Probefahrt am Samstagmorgen geht es gleich ins Qualifying. Das könnte, vornehmlich aus Kostengründen, die Zukunft der Serie sein.

Raus aus den gewohnten Ideallinien, das erhöht die Spannung. Auf allen neuen Pisten gab es besonders muntere, zum Teil chaotische Rennen. Fahrer, die vorher gestöhnt hatten, zeigten sich hinterher reihum begeistert. Es ist fast wie im richtigen Leben: Das neue Normale – ist Perspektive oder Krise? Entscheiden muss das Bauchgefühl. Selbst ein Champion Lewis Hamilton, der für gewöhnlich die Vorabspaziergänge mit den Ingenieuren schwänzt, ist in Imola mit dem Elektro-Roller unterwegs, um die Piste kennenzulernen. Und natürlich auch, um das Denkmal für sein Idols Ayrton Senna zu sehen. Sein Eindruck insgesamt: „Was für eine wunderbare Landschaft hier.“ Das Fazit nach der Qualifikation, als er im letzten Umlauf noch vom Kollegen Valtteri Bottas abgefangen wurde, war ein anderes: „Ich bin von mir selbst enttäuscht.“ Aber das war mehr Jammern auf höchstem Niveau.

Jeder Fahrer muss ein Gefühl für die Piste und ihre Grenzen bekommen und dazu möglichst viel Daten für das Set-Up sammeln. Mercedes-Teamchef Toto Wolff gefällt das prinzipiell: „Je weniger Testrunden, je weniger Daten, desto mehr Unberechenbarkeit und Abwechslung. Dann gewinnt nicht der Stärkste, sondern derjenige, der sich am besten anpasst. Also das innovativste Team und der Fahrer, der sich auf die Strecke und die Reifen am schnellsten einstellt.“ Sein Schützling Lewis Hamilton ist darin einer der besten, so wie es auch Michael Schumacher gewesen ist.

Natürlich kennen die meisten Fahrer das Layout von ausgiebigen Testrunden im Simulator, das lindert die große allgemeine Verunsicherung etwas. Diese Trockenübungen haben mit den herkömmlichen Computerspielen natürlich nichts zu tun. Die Strategieabteilungen haben zunächst für viel Geld so genannte Lidar-Karten erworben, hochakkurates, dreidimensionales Datenmaterial von der Topographie Strecke. Auf diesen sind sogar die Randsteine und die Beschaffenheit der Oberflächen genau zu erkennen. Je genauer, je besser, um damit die künstliche Intelligenz zu füttern. Diese baut dann eine akkurate virtuelle Teststrecke für den ebenfalls komplett digitalisierten Rennwagen nach, den so genannten „Driver-in-Loop“-Simulator.

Die Piste in Imola ist schnell, es ist schwierig zu überholen. Den größten Unterschied zwischen einem virtuellen und einem echten Grand Prix benennt das britische Talent George Russell aus dem Williams-Rennstall: „Im Simulator brauchst du keine Angst zu haben.“

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