Wenn keiner die Amerikawahl akzeptiert: Was kommt danach?

Seit Monaten richten sich die Amerikaner darauf ein, dass am 3. November, dem Tag der Wahlen, der Kampf nicht endet, sondern so richtig erst losgeht. Ein Großteil der Anhänger beider Lager würde den gewählten Präsidenten der Gegenseite als illegitim ansehen. Wie eine Untersuchung durch „Bright Line Watch“, eine Initiative amerikanischer Politikwissenschaftler, ergab, würden nur 44 Prozent der Trump-Unterstützer einen Wahlsieger Biden als rechtmäßig betrachten und nur 34 Prozent der Biden-Unterstützer einen Wahlsieger Trump. Das hängt direkt damit zusammen, dass beide Lager voneinander annehmen, dass sie die Wahl manipulieren: Gemäß einer vom „Guardian“ in Auftrag gegebenen Umfrage hegen diese Befürchtung 60 Prozent der Trump-Wähler und 53 Prozent der Biden-Wähler. Folgerichtig rechnen drei Viertel der Biden-Wähler damit, dass ein unterlegener Trump die Niederlage nicht akzeptieren, sondern unter Berufung auf Wahlbetrug trotzdem im Amt zu bleiben versuchen würde. 41 Prozent der Trump-Wähler unterstellen einem besiegten Biden einen solchen Versuch, das Wahlergebnis im Nachhinein umzudrehen. Und beide Lager mobilisieren ihre Anhänger, sich vom Wahltag an bis mindestens zum 20. Januar, dem für die Amtsübergabe vorgesehenen Tag, für alle Eventualitäten bereitzuhalten, um auf die Schikanen der Gegenseite rechtzeitig reagieren zu können.

Mark Siemons

In der mächtigsten Demokratie der Welt wird die demokratische Wahl also weithin nicht mehr als ein funktionierendes Mittel angesehen, den politischen Konflikt zu regulieren. Obwohl beide Lager das demokratische System für sich in Anspruch nehmen, haben sie offenbar kein Vertrauen mehr in dessen Verfahren. Und ordnen deren Fortbestand daher der Durchsetzung der eigenen Macht unter. Plötzlich scheint die Demokratie selbst zur Disposition zu stehen.

Wahrscheinlich ist diese abrupte Delegitimierung das bisher fatalste Ergebnis der Ära Trump. Die Frage „Was wäre, wenn Trump die Wahl verliert und einfach nicht geht?“ ist keine Spekulation seiner Gegner, sondern ein Szenario, mit dem der amerikanische Präsident selbst die Öffentlichkeit ausdauernd gefüttert hat. Das begann schon vor der letzten Wahl 2016, als er im Fernsehduell mit Hillary Clinton gefragt wurde, ob er eine Niederlage akzeptieren würde, und dann sagte: „What I’m saying is that I will tell you at the time. I’ll keep you in suspense. Okay?“ Diesen September nun sagte er: „Gut, wir werden sehen müssen, was passiert. Sie wissen das. Ich habe mich schon sehr stark über die Briefwahl beschwert.“ Vorher behauptete er: „Die Demokraten versuchen, diese Wahl zu manipulieren, weil das die einzige Weise ist, auf die sie sie gewinnen können.“ In einem Tweet raunte er: „Es wird der Skandal unserer Zeit sein.“ Damit versorgt Trump Anhänger und Gegner gleichermaßen mit einer Imagination, die noch kurz vor ihm abenteuerlich erschienen wäre: der Vorstellung, dass der Präsident der Vereinigten Staaten demokratische Wahlen nicht akzeptiert, weil er sie für eine Verschwörung seiner Gegner hält.

„Zivilität und Anstand sind Sekundärwerte“

Selbst wenn bei dieser Wahl nun alles ordnungsgemäß ablaufen sollte – auch diese Option besteht –, wird das vorher Undenkbare bleiben: Schon dadurch, dass Trump die Möglichkeit, die Wahl nicht anzuerkennen, ausdrücklich zum Thema macht, verändert er deren Rahmen. Er kämpft nicht einfach innerhalb des demokratischen Rahmens um den Sieg, sondern er macht die Frage, ob man dem demokratischen Rahmen überhaupt zustimmen sollte oder nicht, zum Gegenstand seines Kampfs.

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