Frankreich nach den Anschlägen: Ein Allerheiligen der Angst

Vor vielen französischen Friedhöfen und Kirchen patrouillieren zu Allerheiligen Polizisten oder Soldaten. Premierminister Jean Castex hat versprochen, dass alle Gläubigen ihrer Verstorbenen „in Freiheit und Sicherheit“ gedenken könnten. 7000 Soldaten wurden im Rahmen der Mission „Sentinelle“ (wörtlich: Wache) an die Heimatfront beordert. Auf dem Höhepunkt der Terrorwelle 2015 waren sogar über 11.000 Soldaten zum Schutz der Bevölkerung im Einsatz.

Michaela Wiegel

Die Angst vor neuen Anschlägen ist groß. Am „roten Allerheiligen“ („Toussaint Rouge“) am 1. November 1954 nahm mit einem Dutzend Attentaten gegen Franzosen der Algerienkrieg seinen Anfang. Unter den ersten Opfern in den damals zu Frankreich gehörenden Départements auf algerischem Boden war damals ein 23 Jahre alter Lehrer, der die einheimischen Kinder alphabetisieren wollte. „Uns ist wieder der Krieg erklärt worden, und wir werden ihn nicht mit großen Reden gewinnen“, mahnte jetzt die Abgeordnete Michèle Tabarot von den Republikanern (LR).

Schutz für Kirchen und Schulen

In Frankreich werden die Herbstferien, die „Allerheiligenferien“, immer um den 1. November gelegt, damit Familien auch die oftmals weit entfernt gelegenen Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen schmücken können. Am Sonntag galten trotz des strikten Lockdowns Ausnahmeregeln, um den Gläubigen Reisen zu ermöglichen. Der Regierungschef fuhr am Wochenende in Begleitung der Verteidigungsministerin in die Normandie. Vor der Kirche von Saint-Étienne-du-Rouvray, in der Ende Juli 2016 Pfarrer Jacques Hamel während der Morgenmesse von zwei jungen Islamisten enthauptet worden war, versuchte Castex die Christen zu beruhigen.

Es sei „die Ehre“ des französischen Staates, Kirchen, aber auch katholische Schulen und andere Einrichtungen zu schützen. Doch kaum hatte er die Worte an der Seite des Primas der Normandie, Erzbischof Dominique Lebrun, ausgesprochen, musste der Regierungschef seinen Besuch abbrechen und ins Krisenzentrum nach Paris zurückreisen. Vor einer griechisch-orthodoxen Kirche in Lyon war es zu einem Schusswechsel gekommen, ein 52 Jahre alter Priester wurde schwer verletzt.

Ein wütender Bischof

Es hieß zunächst, es seien Allah-Akbar-Rufe gehört worden. Deshalb nahm der Regierungschef eilends von dem verblüfften Erzbischof Abschied. Die Szene ist symptomatisch für die prekäre Lage in Frankreich: Die Welle der Angriffe auf Symbole der christlichen Zivilisation lässt der Regierung keine Atempause. Die auf Beruhigung zielende Botschaft des Premierministers verhallte ungehört. Die nationale Anti-Terror-Staatsanwaltschaft hat letztendlich keine Ermittlungen zu dem Schusswechsel in Lyon aufgenommen, weil es Hinweise auf private Verwerfungen in der Gemeinde des Priesters gibt. Die Verunsicherung aber ist immens. Daran änderte auch ein Telefonat Präsident Emmanuel Macrons mit Papst Franziskus nichts.

„Unser christlicher Glaube, der uns zum Gebet für unsere Feinde animiert, verbietet nicht die Tränen, die Unruhe und die Wut“, sagte Pierre-Hervé Grosjean, einer der in den sozialen Netzwerken aktivsten Geistlichen Frankreichs, der den „Padre-Blog“ begründet hat. Grosjean äußerte in einem Beitrag seine Wut über „die Naivität vieler, auch in unseren Reihen, über die Blindheit, die vom Wohlwollen getragen wird“. Die Nächstenliebe müsse fortan einhergehen mit einem ungeschönten Blick auf „den Willen derjenigen, die uns, die Ungläubigen, zerstören wollen“. „Sie wissen, was sie tun. Sie zielen auf alle Bereiche unserer tief verwurzelten Identität ab: die Freiheit, das Schulwesen, das jüdisch-christliche Erbe, die Kultur“, schrieb Grosjean.

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