Gedächtnisforscherin Erll: Wie werden wir uns an das Jahr 2020 erinnern?

Frau Professor Erll, das Jahr 2020 ist anders verlaufen, als wir uns das im Januar vorgestellt haben. Wenn wir in zwanzig Jahren zurückdenken: Wird 2020 das Jahr sein, in dem das Auslandssemester ausgefallen ist, in dem wir die Großeltern eine Zeitlang nicht sehen konnten? Oder wird unser erster Gedanke Corona sein?

Das kann natürlich niemand vorhersagen. Grundsätzlich lässt sich festhalten: Menschen erinnern geschichtliche Ereignisse in verschiedenen Rahmen. Wenn ich mich im autobiographischen Rahmen erinnere, ist 2020 das Jahr, in dem ich die Großeltern nicht sehen, mein Abi nicht feiern konnte. Ich denke, dieser Rahmen wird sicherlich greifen, weil die Pandemie so lange andauert und so große Veränderungen mit sich bringt, dass die Psychologen wohl von einer „lifetime period“, also einer Lebensperiode, sprechen würden. Doch wird die Pandemie auch in anderem Rahmen langfristig erinnert werden? Es gibt viele Wissenschaftler, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon ausgehen.

Sie scheinen sich auch noch nicht sicher zu sein. In einem Essay haben Sie geschrieben, Pandemien seien wiederkehrende Ereignisse – allerdings nicht im europäischen Bewusstsein. Warum ist das so?

Weil bei bisherigen Pandemien bestimmte Gedächtnisprozesse nicht gegriffen haben. Damit diese Pandemie als internationales Ereignis erinnerbar wird, braucht es Manifestationen, wie zum Beispiel Gedenktage für die Corona-Opfer. So etwas stabilisiert die kollektive Erinnerung. Vielleicht wird es auch Spielfilme geben, die viele Menschen sehen. Oder ikonische Bilder aus Krankenhäusern. Wie fatal es für die kollektive Erinnerung ist, wenn diese Bilder nicht vorhanden sind, das zeigt uns die Spanische Grippe. Je nachdem, wer rechnet, hat sie von 1918 bis 1920 zwischen 50 und 100 Millionen Opfer gefordert, so viel wie Erster und Zweiter Weltkrieg zusammen. Da stellt sich die Frage, warum erinnern wir die Kriege, aber nicht die Spanische Grippe?

Astrid Erll ist Professorin für Neue Englischsprachige Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Astrid Erll ist Professorin für Neue Englischsprachige Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität in Frankfurt. : Bild: Privat

Kennen Sie die Antwort?

Klar ist: Es gibt eine Art Wettbewerb zwischen Ereignissen um die Aufnahme ins kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Diesen Wettbewerb haben ganz klar die Weltkriege gewonnen. Welche Ereignisse es ins kollektive Gedächtnis schaffen, ist vor allem eine Frage der Medialisierung: Gibt es bedeutende Gemälde, gibt es Memoiren, gibt es den großen modernistischen Roman, der sich um die Spanische Grippe dreht? Nein, die gibt es nicht. Man braucht solche Medien aber, damit die Erinnerung durch die Generationen einer Gesellschaft wandern kann. Das andere ist die Schwierigkeit, Pandemien zu erzählen. In unserer Kultur ist es viel einfacher, einen Krieg zu erzählen, weil man dabei eine Ursache identifizieren kann, Täter und Opfer hat und mit einem Friedensvertrag meistens ein relativ klares Ende. Das ist bei Pandemien nicht so: Man kann keine menschlichen Verursacher, keine Schuldigen ausfindig machen. Und auch keine „Moral von der Geschicht‘“, die für erfolgreiche Narrative aber wichtig ist.

Das Jahr 2020 sollte das Bewusstsein in Europa für frühere Pandemien aber gestärkt haben, oder?

Das kann man so sehen. Corona hat wie ein einziger riesiger Abrufhinweis gewirkt. Sofort haben alle den Blick zurückgeworfen und überlegt: Wann gab es Ähnliches? Das Denken in historischen Analogien ist typisch. Sobald man etwas scheinbar Neues, Überraschendes, Gefährliches erlebt, schaut man zurück. Deshalb wissen wir jetzt alle so viel über die Spanische Grippe.

Warum erinnern wir die Kriege, aber nicht die Spanische Grippe?

Warum erinnern wir die Kriege, aber nicht die Spanische Grippe? : Bild: dpa

Was wird uns diese Pandemie für die Zukunft lehren?

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