Eigentlich war es eine logistische Meisterleistung: Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Ende vergangenen Jahres den Start des großen Impfens gegen die Pandemie in Aussicht stellte, wurde das ganze Land binnen kürzester Zeit fit gemacht für den Ansturm von Impfwilligen. Messehallen und Verwaltungsgebäude wurden zu medizinischen Zentren umfunktioniert, Ärzte und Schwestern rekrutiert, mobile Teams für die Pflegeheime zusammengestellt.
Doch vier Wochen nach dem offiziellen Start herrscht in den meisten Impfzentren gähnende Leere. Und wer den Versuch unternahm, für die eigenen Eltern oder Großeltern außerhalb von Pflegeheimen einen Termin für die begehrte Schutzimpfung zu sichern, bekam oft die gleiche Antwort: „Eine Terminvergabe ist derzeit leider nicht möglich.“
Fragt man nach den Gründen für Deutschlands verbummelten Impfstart, fällt die Antwort von Schleswig-Holstein bis Bayern überall gleich aus, wie eine Umfrage von WELT AM SONNTAG unter den 16 Landesregierungen zeigt: Es gibt weiterhin viel zu wenig Impfstoff.
„Es hakt massiv an der Menge des verfügbaren Impfstoffs, den uns der Bund zur Verfügung stellt“, kritisiert etwa das Gesundheitsministerium in Baden-Württemberg und schiebt den Schwarzen Peter für die Misere damit der Bundesregierung zu.
Insgesamt rund 292 Millionen Dosen Impfstoff hat sich der Bund bei insgesamt fünf verschiedenen Herstellern gesichert, wie eine Übersicht des Bundesgesundheitsministeriums zeigt. Davon entfallen etwa 242 Millionen auf den Anteil aus den vereinbarten EU-Verträgen und weitere 50 Millionen auf separate Vereinbarungen mit den beiden deutschen Herstellern Biontech und Curevac.
Doch bis wann jeweils geliefert werden kann und mit wie viel Stoff in den kommenden Wochen wirklich zu rechnen ist – völlig unklar.
Warten auf AstraZeneca
Und ausgerechnet der Konzern, auf den die EU bei ihren Bestellungen lange Zeit die größten Hoffnungen gesetzt hat, AstraZeneca, enttäuschte: Der britisch-schwedische Konzern kündigte an, wegen Produktionsproblemen in Belgien statt der bisher vereinbarten 80 Millionen Impfdosen bis Ende März nur 31 Millionen liefern zu können.
Weil der Konzern die EU-Lieferungen kürzt, nicht aber jene an Großbritannien, liegt die EU-Kommission mit den Managern im Clinch. Am Freitag verpflichtete sie die Pharmahersteller dazu, vor dem Export von in der EU hergestellten Impfstoffen eine Genehmigung einzuholen.
Voraussetzung für eine Ausfuhr ist, dass das jeweilige Unternehmen bereits ausreichend Dosen an EU-Mitglieder geliefert hat. Für Verwirrung sorgt auch, dass Europas Arzneiaufseher offenbar uneins sind über den Einsatz des Vakzins.
So empfiehlt die europäische Aufsicht EMA den Stoff jetzt für alle Erwachsenen, während die Experten der Ständigen Impfkommission hierzulande das Vakzin nur für Menschen unter 65 Jahren empfehlen, weil für Ältere nicht genug Daten über die Wirksamkeit vorlägen. Der Impfstoff aus Großbritannien erhielt am Freitag die bedingte Marktzulassung für die EU und könnte theoretisch ab sofort verimpft werden – wenn er denn verfügbar wäre.
In den Bundesländern, die für die Umsetzung der Impfstrategie vor Ort zuständig sind, sorgt die mangelnde Planbarkeit für Frust. Die Verbindlichkeit und Kommunikation der Vertragspartner sei „unbefriedigend“, kritisiert Hessens Gesundheitsminister Kai Klose.
„Wie alle Bundesländer brauchen wir Planungssicherheit in Bezug auf Liefertermine und -mengen, das ist die Voraussetzung für verlässliche Impfungen. Leider gewährleisten die Hersteller das durch ihre kurzfristigen Umdisponierungen bisher bestenfalls bedingt.“
Große Unterschiede in der Impfgeschwindigkeit
Allerdings gibt es zwischen den einzelnen Bundesländern durchaus große Unterschiede, was die Impfgeschwindigkeit angeht. Demnach liegen die gemessen an ihrer Einwohnerzahl relativ kleinen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz mit Impfquoten von jeweils 3,4 Prozent rund vier Wochen nach dem Impfstart weit vorn. Mecklenburg-Vorpommerns Gesundheitsminister Harry Glawe begründet den Impferfolg mit der „hohen Impfbereitschaft“ in der Bevölkerung.
Zudem hätten mehr als 600 Freiwillige dafür gesorgt, die Impflogistik zügig auf den Weg zu bringen. „Es ist gut, dass wir im bundesweiten Vergleich weit vorn sind. Viel wichtiger ist aber, dass in Deutschland und Europa insgesamt immer mehr Menschen geimpft werden können“, sagt Glawe.
Die Bundesländer, die beim Impfen hinten liegen, wehren sich gegen Vorhaltungen. Demnach seien einige Bundesländer offenbar vorgeprescht, ohne die entsprechende Zahl an Zweitimpfungen sicherzustellen, wie es der Bund empfiehlt.
„Unser Ziel ist es immer gewesen, verlässlich zu sein und keine falschen Versprechungen zu machen“, kommentiert etwa das Gesundheitsministerium in Stuttgart das schlechte Abschneiden im Bundesvergleich. „Andere Länder haben sich eher von einem Tabellenplatz im RKI-Ranking leiten lassen.“ Dabei zeige die Situation, insbesondere die Lieferschwierigkeiten einiger Hersteller, dass der eingeschlagene Weg der richtige sei.
„Während in anderen Ländern nun das Chaos herrscht, Tausende Termine abgesagt und verschoben werden müssen oder gar ein Impfstopp verhängt wird, können in Baden-Württemberg trotz Lieferkürzungen die Impfungen wie geplant und versprochen stattfinden. Das ist uns wichtiger als irgendein Platz in der RKI-Tabelle“, so ein Sprecher. Derzeit seien mangels verfügbaren Vakzins aber nur 7000 Erstimpfungen pro Tag möglich.
Impftempo dürfte sich verringern
Die Spitzenreiter Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern verweisen hingegen darauf, dass sie ausreichend Impfstoff beiseite gelegt haben. „Die Zweitimpfungen sind sichergestellt“, heißt es in Schwerin. Die reduzierten Liefermengen von Biontech hätten darauf keine Auswirkung.
Was nichts daran ändert, dass insgesamt jede Menge Impfstoff fehlt. Rheinland-Pfalz erklärt, dass man mit einem rollierenden System arbeite. „Bei jeder Erstterminvergabe wird auch der Zweittermin in der Planung hinterlegt“, heißt es dort.
In den kommenden drei Wochen dürfte sich das Impftempo in dem Bundesland allerdings verringern: Weil es an Impfstoff fehlt, werden die Erstimpfungen vorerst ausgesetzt und nur noch Zweitimpfungen verabreicht.
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Vorreiter und Abgehängte – dieses Bild wollen manche Bundesländer aus einem anderen Grund nicht stehen lassen. So scheinen die veröffentlichten Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) nicht immer aktuell zu sein, etwa zu den verabreichten Impfungen mit dem Vakzin des Herstellers Moderna.
„Die Zahl der Impfungen wird täglich an das RKI gemeldet“, erklärt ein Sprecher des Gesundheitsministeriums Schleswig-Holstein. „Offenbar hat das RKI die Daten hier noch nicht aktualisiert.“
Wie groß das Zahlenchaos sein kann, zeigte sich an diesem Mittwoch in Bayern. Das RKI musste die Zahl der verabreichten Erstimpfungen im Freistaat kurzerhand nach unten korrigieren. Statt insgesamt 290.000 Menschen hätten bis dahin doch nur rund 279.000 Menschen die Erstimpfung erhalten.
Chaos bei Terminvergabe
Chaos herrscht außerdem bei der Terminvergabe. Seit vergangenem Montag können Menschen in Nordrhein-Westfalen Impftermine für Senioren über 80 Jahre vereinbaren. Doch nach dem Start folgte die Ernüchterung: Die Nachfrage war größer als erwartet – dabei sah sich die Landesregierung mit rund 1200 Mitarbeitern für die Termintelefonie und den eigens zur Terminbuchung geschaffenen Onlineportalen ursprünglich gut aufgestellt.
Die Folge: lange Warteschleifen und unerreichbare Internetseiten. Zudem kritisiert die Opposition im Landtag, dass es gerade auf dem Land zu wenig Zentren gebe, obwohl dort die Wege viel weiter seien als in der Großstadt.
Etwas anderes könnte manchen Bundesländern hingegen einen Vorsprung verschaffen: eigenmächtige Änderungen bei der Impfreihenfolge. Der Bremer Senat hat in dieser Woche beschlossen, eine Impfkommission einzusetzen, die über Abweichungen von der vorgegebenen Priorisierung entscheiden darf – zumindest in Einzelfällen. Jüngere mit sehr hohen Krankheitsrisiken können nun auf eine frühe Impfung hoffen. Ähnliche Überlegungen gibt es in Rheinland-Pfalz.
Auch andere Länder wollen keine Zeit verstreichen lassen. „Sofern kleinere Mengen an Impfstoff am Ende einer Impfaktion übrig bleiben, sind die mobilen Teams angehalten, diese niedrigschwellig für Personen mit höchster Impfpriorität zu verwenden“, erklärt das Gesundheitsministerium in NRW. Ähnliches melden Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Vordrängler, die das Impfchaos dazu nutzen, um sich ihren Pikser vorzeitig abzuholen, sind offenbar die Ausnahme. „Es sind an das Deutsche Rote Kreuz vereinzelt Hinweise herangetragen worden, dass bei Impfterminen nicht unmittelbar berechtigte Personen geimpft wurden“, heißt es beim Gesundheitsministerium Sachsen. Andere Ministerien wissen davon bisher nichts.
Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.
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