4W: Was war. Was wird. Nach den Manifesten kamen die Anstands-Gebote.

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Moses kommt vom Berg herunter und sagt: „Ich hab ’ne gute und ’ne schlechte Nachricht. Die gute: Ich habe ihn auf zehn heruntergehandelt. Die schlechte: Ehebruch ist noch dabei.“ An diesen alten jüdischen Witz musste ich denken, als in dieser Woche das Ministerium für Wahrheit und Anstand die „11 Gebote zu Haltung und Respekt im Netz“ vorstellte.

Das gab’s schon mal: Die „Rules of the Net“ von 1995 sind heute – ironischerweise – im Internet ziemlich schwer zu finden.

Ja, so heißen sie wirklich. Endlich haben die Bewohner und die gehässigen Anrainer dieses Internets ein Regelwerk, wie sie sich verhalten sollen, verkündet mit großem Wortgeklingel. Darunter finden sich Gebote wie das fünfte Gebot: „Abstand halten und sich nicht gemein machen“, das jeder Journalistin und jedem Journalisten als eiserne Friedrichsregel schon einmal um die Ohren gehauen wurde. Alle Gebote werden umständlich erläutert, beim fünften liest sich das so: „Demokratische Gesellschaften brauchen ein rechtes Maß von Nähe und Distanz. Das Internet verkürzt die Abstände, ohne jedoch leibliche und körperliche Nähe zu ermöglichen. Diese digitale Nähe ist eine Chance, aber gleichzeitig eine Gefährdung, gegen die Diskretion, Aufmerksamkeit und Empathie für den Anderen eingeübt werden müssen. Hierzu gehört auch die Zurückhaltung, fragwürdige Inhalte im Internet zu rasch und ohne Prüfung zu teilen und zu verbreiten. Gerüchteküchen, Klatschblasen oder missionarisches Verteilen von ‚fake news‘ werden im Netz allzu leicht zu Hetzmeuten und Verschwörungsgemeinschaften.“

*** Ja, das Internet verkürzt die Abstände und offenbar auch das Gedächtnis. Wer diese Begründung liest, wird sofort an die „Rules of the Net“ von 1995 erinnert, die auf Deutsch als „Die zwölf Gebote des Cyberspace“ veröffenlicht wurden. Heute sind sie etwas schwer im Netz zu finden, am einfachsten vielleicht hier unter dem Reiter „Zitate im Buch“. Das fünfte Gebot der Anständigen ist dort das dritte Gebot und lautet kurz und knapp: „Du sollst ein hohes Signal-Rauschverhältnis haben“. Auch für dieses Gebot gibt es eine Erklärung, die zitiert zu werden verdient, weil nicht jeder ein Computerfreak ist: „Signal-Rauschverhältnis bezieht sich auf die Qualität der Äußerungen und Informationen, die Sie ins Netz schicken. ‚Signale‘ sind jede Art von nützlichen Informationen, ‚Rauschen‘ ist statisch. Das Netz belohnt Kürze und ignoriert letztendlich Gelaber, Gesülze und Geschwafel. Sagen sie kurz und verständlich, was Sie zu sagen haben und dann weiter im Text.“ Ja, da kann man nicken: Gelaber, Gesülze und Geschwafel haben nichts im Netz zu suchen, nur harte, kalte Fakten wie diese Wochenschau sie bietet. So ist das nun einmal in der digitalen Welt. „Mehr als in der analogen Welt braucht es hier einen kühlen Kopf und eine Leidenschaft der Sachlichkeit sowie eine Haltung, dem Anderen seine Affekte und Emotionen nicht immer nachzutragen.“ Huch, schon wieder die Anständigen. Nein, wir tragen niemandem etwas hinterher.

*** Aber ach, ein kleines bisschen nachtragend wird man wohl sein dürfen, wenn man den Lauf der Geschichte betrachtet. Am 23. Juli 1985 gab es in New York eine Gala der besonderen Art, als der Commodore Amiga 1000 vorgestellt wurde. Als erster Heimcomputer konnte sein Monitor 256 Farben darstellen, was Commodore damit demonstrierte, das ca. ab Minute 12:00 auf der Bühne der Künstler Andy Warhol ein Portrait der Sängerin Debbie Harris von Blondie verfremdete. Vor fünf Jahren haben die Kuratoren des Warhol-Museums auf alten Disketten 23 (!) weitere Dateien gefunden, darunter auch eine mit dem Amiga produzierte Verfremdung von Marilyn Monroe, allesamt in „fürchterlicher Qualität“. Nun sollen die Bilder auf die Reise gehen und auf restaurierten Amigas gezeigt werden. Die fürchterliche Qualität wird dadurch aufgehoben, dass mit einigem Aufwand LCD-Monitore mit Amiga-ähnlichen Gehäusen versehen wurden. Sie sollen zuverlässiger sein, verfälschen aber die Bilder, denn es sind nun einmal keine Röhrenmonitore. Dass die Tastatur des Museumsstückes die vom Amiga 2000 ist, komplettiert den Eindruck. Die Kuratoren sollten sich was schämen, getreu nach dem 10. Anstands-Gebot.

*** Man kann den Anstand aber auch einfach vergessen. Das geht wirklich, wie es der Fall Julia Reuss zeigt. Die Büroleiterin des Digital-Staatsministeriums geht als Lobbyistin zu Facebook. Dort wird sie für den Kontakt mit politischen Entscheidungsträgern verantwortlich sein. Passend dazu hat die Berliner Zeitung, die mit dem Anspruch von „Open Source“ im Titel, ein Interview mit der Digital-Staatsministerin Dorothea Bär hinter einer Paywall, das sich liest, als würde die Digitalisierung Deutschlands gerade erst beginnen, mit einer Politikerin, die neu in diesem Job ist. Nun, auch mit dem Hinweis auf die Gebote des Cyberspace: Die Digitalisierung ist schon ein wenig älter. Etwa in der medizinischen telematischen Infrastruktur, über die eine andere Berliner Zeitung dieser Tage berichtete. Der tageszeitung erklärte der Datenschützer Thilo Weichert, dass die Infrastruktur nach heutigen Maßstäben uralt ist – aber eben auch so neu, dass die zum Jahresanfang angebotene Patientenakte die Versicherten zu Versuchskaninchen macht. Passenderweise hat dazu die verantwortliche Projektgesellschaft Gematik ein neues Video veröffentlicht, das klarmacht, in welchem Schneckentempo diese Akte eingeführt wird. Die wenigen Ärzte, die aktuell eine Patientenakte befüllen können, haben noch keine Patienten getroffen, die eine Patientenakten-App installiert haben.

*** Der Bundesrat gehört zu den Institutionen unseres Staates, die gemeinhin unterschätzt werden. In dieser Woche hat er seine denkwürdige 1000. Sitzung absolviert und allen mal richtig gezeigt, was so ein oller Flickenteppich leisten kann: Er hat den Entwurf eines Reparaturgesetzes zur Bestandsdatenauskunft einkassiert, mit dem die Regierungskoalition den Überwachungsstaat ein Stückchen weiter ausbauen wollte. Offenkundig wurde, dass dieser Gesetzentwurf in der vorliegenden Form erneut vor dem Bundesverfassungsgericht landen würde. Ob ein Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat den Murks zur Herausgabe von Passwörtern in eine gefälligere Form gießen kann, bleibt abzuwarten. Das aber nicht allzu lange, denn von einem reparierten Auskunftsgesetz hängt das Gesetz gegen die Hasskriminalität ab, das noch vom Bundespräsidenten unterschrieben werden muss. Ausschlaggebend war das Land Thüringen. Dort ist die Linke gegen die Bestandsdatenauskunft, sozusagen aus Anstand.

Manche haben gar keinen Anstand. Während der kleine Spielzeugwarenladen mit seinem Hygiene-Konzept sehen darf, wo er bleibt, sind die Spielwarenabteilungen in großen Warenhäusern mit einer Lebensmittelabteilung geöffnet. Das soll sich zumindest im Saarland insofern ändern, dass diese Einkaufslandschaften ab dem 22. Februar nicht mehr für Artikel außerhalb des täglichen Bedarfs werben dürfen. Die Beschränkung mag harmlos klingen und den Lockdown unterstützen, der entgegen vieler Stimmungsartikel von der großen Mehrheit der Bundesbürger ertragen und getragen wird. Da bröckelt nichts, auch wenn das manche Zeitungen schreiben. Bröckeln kann allerdings die unternehmerische Freiheit, für seine Geschäfte werben zu können: Was passiert, wenn Aktionsartikel online beworben werden, mit Lieferung frei Haus? Fehlt da nicht ein Zusatz-Gebot zur Haltung im Netz? Vor vielen Jahren lautete das achte Gebot des Cyberspace: „Du sollst nicht offen auf deinen Profit abzielen“.

Spam-Flut auf Papier – gelebte unternehmerische Werbefreiheit in der analogen Welt.

Die Übergriffigkeit kommerzieller Dienste begann sich damals bemerkbar zu machen. Insofern stimmte diese Begründung des Gebotes, und sie stimmt nostalgisch: „Dennoch dürften die Kontakte, Tips und Informationen, die man im Netz aufgabelt, jedem halbwegs gescheiten Wesen helfen, den materiellen Status aufzubessern. Nur sollten Sie damit nicht loslegen wie der König der Werbeprospekte. Das Leben ist zu kurz, um sich von allen Seiten mit Megatonnen flammender E-Mail zuschütten zu lassen. Wenn Sie Geschäfte machen wollen, gehen Sie damit ins Web.“


(tiw)

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