Ukrainischer Präsident Selenskyj: „Deutschland könnte uns militärisch helfen“

Herr Präsident, im April hat Russland mehr als hunderttausend Soldaten an den Grenze ihres Landes und im Schwarzen Meer aufmarschieren lassen. Viele sind bis heute nicht abgezogen. Auf welche Gefahren bereitet das ukrainische Militär sich vor? Kann es Russland zum Beispiel darum gehen, eine Landbrücke von Russland zur besetzten Halbinsel Krim zu erobern?

Konrad Schuller

Politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

Es gibt viele militärische Möglichkeiten, auch Operationen von See. Wir sind sehr beunruhigt. Dazu kommt die Variante, von der Sie gesprochen haben: einen Korridor zur Krim aufzubrechen. Es kann auch zu einer Eskalation vom besetzten Donbass aus kommen, zu einem „Blitzkrieg“ über die heute zeitweilig besetzten Gebiete hinaus zu den Verwaltungsgrenzen der Bezirke Donezk und Luhansk. Aber auch Überraschungen aus anderen Richtungen sind möglich. Wir haben heute eine sehr gefährliche Situation in Belarus an unserer nördlichen Grenze. Heute ist die Armee dort unter dem Befehl des belarussischen Regimes. Wir beobachten aber, wie Russland und Belarus beharrlich an Abkommen untereinander arbeiten. Die könnten vielleicht die Verteidigung mit einschließen, und dann können diese Länder ernsten Druck auf uns ausüben. Dann hätte Russland Kontrolle über die belarussischen Streitkräfte. Auch von dieser Seite sehen wir Gefahren für uns – bis hin zu einem echten Unionsstaat zwischen Russland und Belarus.

Sie sprachen von einem potentiellen neuen „Blitzkrieg“ in der Ostukraine. Könnte so eine Aggression für Russland leichter werden, wenn die Ostseepipeline NordStream 2 gebaut ist? Dann müsste Moskau ja vor einer möglichen Zerstörung seiner ukrainischen Gas-Transitleitungen in einem eskalierenden Krieg keine Angst mehr haben.

Bei Nord Stream 2 geht es um etwas ganz ähnliches wie bei der Annexion der Krim. Nach der Eroberung der Krim strebte Russland danach, verhandeln zu können. Das war der Beginn des Krieges in der Ostukraine. Der Zweck dieses Krieges war, dass die Krim vergessen wird. Bei den Verhandlungen im Normandie-Format zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine ist die Krim nicht auf der Tagesordnung. Wir haben diese Frage aufgebracht und haben versucht, sie anzusprechen. Aber die Russen schaffen immer neue Themen, und das Thema Krim rückt immer weiter in die Ferne. Die Aggression im Donbass wurde organisiert, um das Thema Krim zu vergessen. Jetzt aber, um eine Amnestie für die Separatisten im besetzten Gebiet zu bekommen, und um künftige Kommunalwahlen zu kontrollieren, muss man den Einsatz erhöhen. Und in diesem Spiel ist Nord Stream 2 eben Trumpf. Die Russen haben hier ein echtes Royal Flush in der Hand, und ein Teil von Europa hilft ihnen.

Um sich vor weiteren russischen Angriffen zu schützen, will die Ukraine der NATO beitreten. Im Bündnis gibt es aber Sorgen: Würde die Ukraine dann nicht sofort Artikel fünf des Nordatlantikvertrags aktivieren, also die Pflicht zur gegenseitigen Verteidigung? Würde sie den Alliierten dann nicht sagen: Wir werden angegriffen, also schickt uns Truppen?

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