Das Sommerferien-Märchen des Jens Spahn

Zupackend gab sich Jens Spahn. „Wir haben aus dem vergangenen Sommer gelernt“, sagte der Bundesgesundheitsminister der „Bild am Sonntag“. Seine Analyse: Im Jahr 2020 seien „phasenweise rund 50 Prozent“ der Corona-Neuinfektionen in Deutschland von Auslandsreisen ausgelöst wurden. Häufig seien dies Verwandtschaftsbesuche in der Türkei und auf dem Balkan gewesen. „Das müssen wir in diesem Jahr verhindern.“

Auch Lösungskonzepte präsentierte Spahn. Mit der Türkei müssten frühzeitig Tests bei Ein- und Ausreise vereinbart werden. An Deutschlands Grenzen werde es außerdem eine Testpflicht geben. „In dieser letzten Phase der Pandemie gilt für Auslandsreisende: testen und wachsam sein. Alles andere gefährdet unseren Erfolg.“

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Die Aussagen des Gesundheitsministers stießen auf Kritik. Die türkische Gemeinde in Deutschland sprach von einem „Generalverdacht“ gegen ganze Bevölkerungsgruppen. Dies öffne „Stigmatisierungen Tür und Tor“. Albaniens Premier Edi Rama sagte der „Bild“-Zeitung: „Es ist ein Skandal, dass ein deutscher Minister den Balkan öffentlich anprangert und damit auch Menschen mit Migrationshintergrund abwertet.“ Und fügte hinzu: „Es gibt keine Zahlen, die dies belegen.“

Das Gesundheitsministerium widerspricht: Es gebe sehr wohl einschlägige Zahlen. Auf Anfrage von WELT teilt es mit, dass sich der Minister bei seinen Aussagen vor allem auf zwei Berechnungen des RKI stützt. Einmal auf den Lagebericht vom 25. August, in dem die Ansteckungsorte der Neuinfizierten für die Wochen zwischen dem 27. Juli und dem 23. August zusammengefasst sind.

Quelle: Infografik WELT

Bei dem Zeitraum handelt es sich um die vier Wochen, in die die Hauptreisezeit in Deutschland fiel. Es waren im Jahr 2020 die einzigen vier Wochen, in denen zahlreiche bevölkerungsreiche Bundesländer parallel Sommerferien hatten. Nur die Ferienwochen kommen in der Regel für mehrwöchige Familienbesuche im Ausland infrage.

Der Bericht nennt bei 10.387 Infektionen in diesem Zeitraum das Ausland als Ansteckungsort. Das ist mehr als die Hälfte der insgesamt in diesem Zeitraum hierzulande erfassten Fälle. Mehr als die Hälfte dieser Infektionen stammen aus drei Ländern: aus dem Kosovo, Kroatien und der Türkei. Unter den ersten zehn Ländern befinden sich außer Spanien und der Türkei ausschließlich Balkanländer.

Auslandsreisen führten nicht in die zweite Welle

Neben den Infektionen in Spanien dürften auch jene in Kroatien und Bulgarien zumindest teilweise auf das Konto von Urlaubern gegangen sein. Für die Türkei, das als Nicht-EU-Land für Touristen im vergangenen Sommer schwierig zu erreichen war, dürfte das eher nicht gelten. Auch alle anderen aufgeführten Länder gelten nicht als nennenswerte Tourismusziele für Menschen aus Deutschland. Hier dürften die Ansteckungen aller Wahrscheinlichkeit tatsächlich auf Familienbesuche in der ursprünglichen Heimat der Menschen zurückzuführen sein.

Quelle: Infografik WELT

Die zweite Statistik, auf die sich Spahn stützt, ist eine Auswertung des RKI zum Anteil der Auslandsinfektionen im vergangenen Jahr. Sie zeigt, dass der Anteil dieser Ansteckungen jenseits der Grenzen im Sommer extrem anstieg. Die höchsten Werte zeigen sich um ein bis zwei Wochen zeitversetzt nach den vier Kern-Sommerferien-Wochen vom 27. Juli bis 23. August.

Die Verzögerung erscheint plausibel angesichts der Tatsache, dass zwischen Ansteckung, Ausbruch der Symptome und Meldung der Infektion in der Regel in etwa diese Zeitspanne vergehen dürfte. Hinzu kommt: In dieser Zeit lagen auch die Corona-Zahlen in den Balkanländern weit höher als in Deutschland. Anfang Juli stiegen die Neuinfektionen in Serbien um über 100 Prozent, in Kroatien sogar um über 200 Prozent. In der Türkei lagen sie etwa auf deutschem Niveau.

Quelle: Infografik WELT

Die Zahlen stützen klar die These, dass ein größerer Anteil der Infektionen vergangenen Sommer von Menschen stammte, die von Familienbesuchen auf dem Balkan oder der Türkei zurückkehrten. So weit, so richtig. Aber Spahn antwortete mit seiner Einlassung zu den Auslandsinfektionen auf folgende Interviewfrage: „Letztes Jahr ist es nach dem Sommer schiefgegangen, da kam die zweite Welle.“ Mit seiner Antwort und der damit verbundenen Warnung vor einer Wiederholung in diesem Sommer stellt Spahn einen Zusammenhang zwischen Reiserückkehrern und zweiter Welle her.

Und dieser Zusammenhang lässt sich eben nicht belegen. Zunächst einmal: Zwar war der Anteil der Auslandsinfektionen im Sommer in der Tat hoch. Aber absolut betrachtet lag die Zahl der Ansteckungen auf extrem niedrigem Niveau. Im Juli und August gab es laut Johns-Hopkins-Universität in Deutschland insgesamt rund 50.000 Neuinfektionen.

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Allein im Monat Dezember waren es 700.000. Und entscheidend: Es lässt sich vom Sommer aus eben keine Verbindung zum Beginn des exponentiellen Wachstums in der zweiten Welle herstellen. Der Anteil der Auslandsinfektionen ging im September rasch zurück. In der Woche vom 14. September lag er nur noch bei 13 Prozent – und stieg ab diesem Punkt nie mehr über zehn Prozent.

Ab Mitte September spielten Auslandsinfektionen also keine große Rolle mehr. Das exponentielle Wachstum der zweiten Welle aber begann später, erst Anfang Oktober. Die Annahme des Ministers, Deutschland sei wegen der Reiserückkehrer in die zweite Welle gerutscht, ist damit nicht zu halten. „Ich glaube nicht, dass die Reiserückkehrer damals einen massiven Beitrag zur Pandemie geleistet haben“, sagt auch Martin Stürmer, Virologe von der Universität Frankfurt gegenüber WELT.

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Quelle: WELT/ Lea Freist, Daniel Koop

Stürmer ist zugleich Leiter eines Medizinlabors, das im vergangenen Jahr auch Reiserückkehrer testete. „Die meisten, die wir getestet haben, waren negativ. Die Testanzahl ist zwar innerhalb der Sommerferien 2020 deutlich nach oben gegangen und damit auch die Absolutmenge an positiven Tests, die Positivenquote ist aber konstant geblieben.“

Stürmer sieht andere Gründe für den Anstieg im Herbst. Die zweite Welle sei aufgrund der kühleren Temperaturen und des vermehrten Aufenthalts in geschlossenen Räumen vorhersehbar gewesen. Auch er weist darauf hin, dass das exponentielle Wachstum erst deutlich nach der Hauptferienzeit eingesetzt habe. Daher hält er auch für dieses Jahr, anders als Jens Spahn, Auslandsreisen für keinen großen Treiber der Pandemie. Und auch der Blick auf die aktuellen Zahlen widerspricht Spahns Befürchtung.

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Die Inzidenzen in der Türkei und auf dem Balkan sind zuletzt ebenso steil nach unten gegangen wie in Deutschland. In Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo liegt der Wert sogar niedriger als in der Bundesrepublik, in Kroatien und der Türkei nur knapp darüber. Serbien gehört zu einem der am schnellsten impfenden Staaten Europas.

Das Land setzt schon seit Beginn des Jahres eine große Menge des russischen Impfstoffs Sputnik V und des chinesischen Sinopharms ein, die beide noch nicht in der EU zugelassen sind. Durch diese große Kapazität impfte Serbien auch Menschen aus den Nachbarländern Bosnien und Kroatien. Die jetzt schon wieder sehr niedrigen Inzidenzen sprechen dafür, dass auch in diesem Jahr nicht das Reisen schuld sein wird, wenn eine vierte Welle kommen sollte. Die Impfkampagnen dürften dafür sorgen, dass der Effekt noch geringer ist.

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Wenn die Bundesregierung sich die Zahlen genau ansieht, müsste sie sich weniger fragen, wie sie die Reisezeit managen kann, sondern vielmehr, wie man einen erneuten Anstieg wie Anfang Oktober 2020 im eigenen Land verhindert. Es dürfte ganz entscheidend vom Erfolg der Impfkampagne abhängen, ob bei kühleren Temperaturen eine vierte Welle droht.

Das Gesundheitsministerium sieht die Gefahr aber weiter im Sommer. Konfrontiert mit dem Befund, dass kein Zusammenhang zwischen Auslandsreisen und der Herbst-Welle erkennbar ist, schickte das Ministerium auf Anfrage von WELT nochmals die Tabellen, auf die Jens Spahn seine Behauptung gestützt hatte. Sie zeigten eindeutig, dass rund 50 Prozent der Infektionen durch Auslandsbesuche eingetragen wurden – viele davon durch Besuche auf dem Balkan, teilte eine Sprecherin des Ministeriums mit. „Also genau das, was der Minister gesagt hat.“ Auch wenn der erste Teil der Analyse richtig ist, die Schlussfolgerung ist es nicht.

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