Bücher des Monats Juni: Grenzerfahrungen

Salman Rushdie – Sprachen der Wahrheit

Salman Rushdie: Sprachen der Wahrheit – Texte 2003-2020. C. Bertelsmann, München 2021. 480 Seiten, 26 Euro.

17 Tage lang litt Salman Rushdie an einer nicht ganz glimpflich verlaufenden Covid19-Infektion. Von dieser Erfahrung berichtet der einzige im engeren Sinne neue Text seiner Essaysammlung „Sprachen der Wahrheit“. In den anderen Texten geht es vor allem um die Existenz als polyglotter Intellektueller, der weniger in einem Erdteil zuhause ist als in der Literatur. Berührende Nachrufe auf Christopher Hitchens und Harold Pinter, Liebeserklärungen an Günter Grass und Philip Roth, Rückblicke auf seine Fatwa und seinen Roman „Mitternachtskinder“. In gewissem Sinne handelt sich bei dieser Sammlung um eine umfassende Einführung in Werk und Leben eines der meistgelesenen Autoren unserer Zeit aus seiner eigenen Feder.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Alexandra Förderl-Schmid

Urs Stäheli – Soziologie der Entnetzung

Urs Stäheli: Soziologie der Entnetzung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 551 Seiten, 28 Euro.

Viele Jahrzehnte handelte es sich bei der Vernetzung um eine Ideal, das kaum bestritten wurde. Grenzen galten als Hemmnisse, sowohl zwischen Staaten als auch zwischen Konzernen und Individuen. Diese Euphorie ist gründlich verflogen, die Zeichen stehen auf Abgrenzung und Rückzug. Der Schweizer Soziologe Urs Stäheli hat diese Bewegung untersucht und eine „Soziologie der Entgrenzung“ vorgelegt. Das Buch nimmt die Argumente der Vernetzungskritiker in den Blick, die Thematisierung der Ver- und Entnetzung in der Sozialtheorie und vor allem die Diskurse und Praktiken der Entnetzung selbst. Dabei stößt der Forscher auf ein interessantes Dilemma: Wie betrachtet man etwas, das sich explizit der Betrachtung entzieht?

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Andreas Reckwitz

Zadie Smith – Grand Union

Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 272 Seiten, 22 Euro.

Die britische Schriftstellerin Zadie Smith war seit ihrem ersten Roman „Zähne zeigen“, der direkt ein Weltbestseller wurde, eine der Zentralfiguren dessen, was damals noch „Multikulturalismus“ hieß. In ihrem neuen Erzähl- und Essayband „Grand Union“ schaut sie zurück auf ein Jahrzehnt Migrationsmoderne. Das Urteil fällt zwiespältig aus, Brexit und Trump-Regierung bilden den Hintergrund der 19 hier versammelten Texte, Smith erzählt zwangsläufig vor allem vom konservativen Widerstand gegen die Globalisierung. Der Band markiert aber auch einen Wandel in der Stimme dieser Schriftstellerin: So nachdenklich, so wenig auf Pointe gedreht, waren ihre Texte noch nie.

Lesen sie hier die ausführliche Rezension von Meike Feßmann

Nasstassja Martin – An das Wilde glauben

Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 140 Seiten, 18 Euro.

Im Sommer 2015 wird die französische Anthropologin Nasstassja Martin bei der Arbeit in Kamtschatka von einem Bären angefallen. Über diesen Vorfall hat sie das Buch „An das Wilde glauben“ geschrieben, eine persönliche Meditation über die Verhältnisse zwischen Kultur und Natur, Schicksal und Vorherbestimmung, dem Selbst und dem Anderen. Martin schildert, wie sie die Glaubenssätze jenes sibirischen Volkes annimmt, das sie bis dahin erforscht hat, der Ewenen, und wie sich die Ärzte angesichts der schweren Verletzungen kaum erklären können, dass sie den Angriff überlebt. Die Rede ist von einem medizinischen Wunder. Ein Buch über eine Grenzerfahrung, das auch selbst eine Grenzerfahrung ist.

Lesen sie hier die ausführliche Rezension von Christiane Lutz

Albert Camus/Maria Cesarès – Schreib oft und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959

Albert Camus/Maria Casarès: Schreib oft und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Tobias Scheffel und Andrea Spingler. Vorbemerkung von Catherine Camus. Vorwort von Uwe Timm. Rowohlt Verlag, Hamburg, 2021. 1564 Seiten. 50 Euro. E-Book 39,99 Euro.

Fast 15 Jahre lang dauerte die mehr oder minder diskrete Beziehung zwischen dem verheirateten Albert Camus und der Schauspielerin Maria Cesarès und während all dieser Zeit schrieben sie einander Briefe. Und obwohl langfristige Beziehungen oft vor allem für den Vorzug geschätzt werden, Sicherheit und Berechenbarkeit zu spenden, schienen Camus und Cesarès beieinander das Gegenteil zu suchen: Chaos und Turbulenz. Dank der bewundernswerten Arbeit dreier Übersetzer werden die Höhen und Tiefen, die Verletzungen und auch in der deutschen Ausgabe sichtbar.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Joseph Hanimann

Carla Del Ponte – Ich bin keine Heldin

Carla Del Ponte: Ich bin keine Heldin. Westend, Frankfurt am Main 2021. 176 Seiten, 18 Euro.

Carla Del Ponte will keine Heldin sein. Doch ohne das couragierte Auftreten der ehemaligen Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag wäre vieles in Völkerrecht heute noch viel schlimmer. Mit Slobodan Milošević musste sich erstmals ein ehemaliges Staatsoberhaupt vor Gericht für seine Kriegsverbrechen verantworten. Im Jugoslawien-Tribunal wurden 90 Angeklagte schuldig gesprochen. Del Ponte durfte stolz sein: „Wir hatten es geschafft, der Straflosigkeit, mit der politische Führer bis dahin weltweit ihrer Verantwortung entgangen waren, Einhalt zu gebieten.“ Doch ihre Rückschau ist auch bitter, denn es geht nicht viel voran im Völkerrecht, weil zwei große Staaten – die USA und Russland – aus Eigeninteresse viele nötige Fortschritte verhindern. Ein wichtiges, ein lehrreiches Buch.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Rolf Lamprecht

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