Der Besuch hatte Symbolkraft, wie immer, wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier persönlich an einen besonderen Ort in Deutschland reist. Zum Start seiner neuen Besuchsreihe „Industrielle Leuchttürme in Ostdeutschland“ besichtigte das Staatsoberhaupt in der vergangenen Woche das Volkswagen-Werk in Zwickau.
Dort fertigt der Automobilkonzern seit dem vergangenen Jahr nur noch rein elektrische Modelle, unter anderem das Golf-Pendant ID.3. Die Fabrik in Sachsen ist damit nicht nur ein Aushängeschild des Wandels in Deutschlands wichtigster Industrie – sondern auch ein Zeichen der tektonischen Verschiebung, die in der Branche bereits begonnen hat.
Nicht nur für den Volkswagen-Konzern ist der Abschied vom Verbrennungsmotor und der Wandel des Automobils zu einem „Smartphone auf Rädern“ ausgemachte Sache. Auch alle anderen Hersteller bereiten sich – in unterschiedlichen Geschwindigkeiten – darauf vor, ab 2030 überwiegend Elektroautos zu verkaufen.
Dass dieser Wandel enorme Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im Land und vor allem die Beschäftigten in der Branche haben wird, haben viele Untersuchungen bereits gezeigt. Nun haben die Berater der Boston Consulting Group (BCG) im Auftrag der Elektroauto-freundlichen Lobbygruppe Agora Verkehrswende nachgerechnet.
Ihr Ergebnis: Klappt es bis 2030 mit dem Umstieg auf die Elektromobilität, dann entstehen durch die Technologie praktisch genauso viele neue Arbeitsplätze, wie wegfallen. „In Summe wird aus unserer Sicht die Beschäftigung konstant bleiben“, sagt Kristian Kuhlmann, Managing Director bei BCG.
Das Ergebnis widerspricht auf den ersten Blick einer Warnung, die der Verband der Automobilindustrie (VDA) im Mai ausgesprochen hatte. „Bis 2030 können mehr als 200.000 Arbeitsplätze gerade in der mittelständischen Zulieferindustrie wegfallen, die unter den aktuellen Bedingungen nicht neu geschaffen werden können“, hatte VDA-Präsidentin Hildegard Müller damals gesagt. Grundlage war eine Studie des Münchener Ifo-Instituts zu den Beschäftigungswirkungen des Umstiegs auf die Elektromobilität.
Die Forscher hatten unter anderem herausgefunden, dass die derzeit sehr stabilen Beschäftigungszahlen in der Industrie auf Doppelstrukturen beruhen – Verbrenner- und Elektrofahrzeuge werden gleichzeitig hergestellt. Mit dem Vormarsch der E-Mobile werden diese Strukturen künftig abgebaut – und zusätzlich fallen vom Verbrenner abhängige Jobs weg.
Laut Ifo können die Unternehmen einen Großteil dieses Stellenabbaus allerdings durch „altersbedingte Beschäftigungsfluktuation“ ausgleichen: Rund 75.000 Beschäftigte in der Automobilindustrie werden demnach bis 2025 in den Ruhestand gehen, bis 2030 sind des etwa 147.000 Mitarbeiter, davon 73.000 im Fahrzeugbau.
Auch die BCG-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass mit dem Wandel sehr viele Jobs wegfallen: Dem Minus von 220.000 Arbeitsplätzen stellen die Berater aber 205.000 neue Jobs in der Elektromobilität gegenüber, unter anderem erwarten sie etwa 30.000 Stellen in den riesigen Batteriezellfabriken, die derzeit vor allem in östlichen Bundesländern gebaut werden.
Außerdem grenzen die Berater den betrachteten Markt deutlich weiter ab, als es andere Auto-Studien zuvor getan haben. Sie rechnen zur Branche nicht nur Hersteller, Zulieferer und Werkstätten, sondern auch den Bereich Energieerzeugung und Infrastruktur.
Das führt unter dem Strich sogar zu einem leichten Beschäftigungsaufbau bis 2030. So arbeiten derzeit in den von BCG betrachteten Bereichen 1,69 Millionen Menschen in Deutschland. Im Jahr 2030, so die Prognose, sollen es 1,715 Millionen sein. Vor allem bei der Erzeugung von grünem Strom für die E-Autos und beim Aufbau und Betrieb der Ladeinfrastruktur sehen sie deutliches Potenzial.
Umgekehrt würden etwa in Raffinerien und an den Tankstellen kaum Arbeitsplätze wegfallen, argumentiert Kuhlmann. So sieht es auch sein Auftraggeber. „An Tankstellen wird gerade in großem Maße nachgerüstet mit Schnellladesäulen“, sagt Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende. Zumindest in den Städten zeichne sich da ein Wandel des Geschäftsmodells ab.
Grundlage der Untersuchung ist die Annahme, dass bis 2030 in Deutschland ein Bestand von 14 Millionen Elektroautos auf der Straße unterwegs sein wird. Nur damit ließen sich die aktuellen Klimaziele der Bundesregierung erreichen, meint Hochfeld. Dem Weg der Technologieoffenheit, wie ihn Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) propagiert, erteilte er eine Absage. „Es wird der Eindruck erweckt, dass wir drei technologische Pfade hätten, die gleich ausentwickelt sind“, sagt der Verkehrslobbyist. Das sei aber nicht so.
Bis 2030 seien weder synthetische Kraftstoffe noch grüner Wasserstoff in ausreichender Menge und zu einem vertretbaren Preis verfügbar, um mit dem Batterieauto in Konkurrenz treten zu können. Auch die Automobilhersteller setzen deswegen auf Elektroautos als wesentliche neue Antriebsform für die kommenden Jahre.
Die Auswirkungen dieses Wandels auf die Regionen sind bemerkenswert. Bundesländer, deren Industrie bisher stark im Motorenbau engagiert ist, haben deutlich mit der Transformation zu kämpfen. Für Bayern und Baden-Württemberg sagen die optimistischen Berater dennoch unter dem Strich eine stabile Jobentwicklung voraus. „Innerhalb der Bundesländer wird es deutliche Verschiebungen geben“, sagt Kuhlmann. „Antriebsstrangfokussierte Zulieferer werden die Transformation sehr stark zu spüren bekommen.“
Damit meint er Unternehmen, die fast ausschließlich Bauteile für Verbrennungsmotoren herstellen. Ihre Mitarbeiterzahl sinkt der Prognose zufolge bis 2030 um 95.000 – während bei anderen Zulieferern genau die gleiche Stellenzahl neu entstehen soll. Allerdings auch an anderen Orten. „Wir glauben, dass Ostdeutschland von dieser Entwicklung profitieren wird“, sagt der Berater. Für diese Region erwartet BCG ein Plus bei der Beschäftigung von neun Prozent.
Tausende neue Jobs entstehen dort bereits. Derzeit werden in den östlichen Ländern enorme neue Industrieanlagen für die Produktion von Elektroautos und Batterien gebaut. Allein in der Tesla-Fabrik in Brandenburg sollen etwa 12.000 Arbeitsplätze entstehen; Landespolitiker hatten auch schon von deutlich höheren Zahlen gesprochen.
Einig sind sich die Berater mit den Chefs von Industrie und Gewerkschaften, was die Auswirkungen der Transformation auf die Mitarbeiter betrifft: Ihnen steht ein gewaltiges Umschulungsprogramm bevor, das Jahre in Anspruch nehmen wird. Für etwa 70.000 Beschäftigte bedeutet das, dass sie sich einen neuen Beruf suchen müssen.
Konzerne wie Continental oder Volkswagen haben dazu bereits interne Akademien gegründet, an denen Mitarbeiter komplett neue Ausbildungen absolvieren können. Weitere 200.000 Mitarbeiter werden die Unternehmen mit Umschulungen für neue Aufgaben weiterbilden müssen.
Insgesamt wird Deutschland aus dem Strukturwandel zur Elektromobilität in Europa nach Einschätzung der Berater als Gewinner hervorgehen. Optimistisch stimmt sie, dass viele Unternehmen die eigene Transformation längst angegangen sind. In Ländern wie Polen oder Spanien, die auch große Autostandorte sind, werde die Arbeitsplatzbilanz dagegen wohl weniger positiv aussehen.
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