Dieter Kloss stellt seine Tasche auf den Tisch, nimmt den Fahrradhelm ab und entschuldigt sich, etwas außer Atem zu sein. „Ich bin nicht richtig in Form“, sagt er. „Der Kraftraum hatte ja ein Jahr lang zu.“ Kloss ist 91 Jahre alt und der inoffizielle Alterspräsident der Senioren des Dresdner Kanusportvereins. Jeden Donnerstagnachmittag treffen sie sich im Vereinshaus im Osten Dresdens, rund ein Dutzend Frauen und Männer, es gibt Kaffee, Limonade, Bier. Sie alle waren aktive Kanuten, einige auch Trainer, Jugendbetreuer, Kassenprüfer.
Kloss war sogar mal DDR-Meister. „1956 im Vierer“, ruft er. „Als Siegprämie gab’s ’ne Vase, die müsste eigentlich noch irgendwo im Schrank sein.“ Sie ist dann nicht zu finden, dafür aber stehen dort sehr viele Pokale, Titel, und Ehrungen, die Vereinsmitglieder errungen haben. „Für DDR-Verhältnisse waren wir eine der besten Sportgemeinschaften“, sagt Heinz Göldner. Er ist 87 Jahre alt und hat früher die Anfänger trainiert. Das Interesse sei sehr groß gewesen. Einmal, berichtet er, hätten sie 33 Mädchen, aber nur 30 Boote gehabt.
Erinnerungen kommen hoch. Wie sie vor dem Mauerbau auch Wettkämpfe im Westen bestritten, in Hof und Bamberg, wie die Mannschaften von dort zum Gegenbesuch an die Elbe kamen und wie nach 1961 keine Kontakte mehr gewünscht waren. Und dann die großen Regatten nach dem Krieg. „6000 Zuschauer waren dabei“, sagt Kloss. „Unvorstellbar beim Kanusport!“ Doch die jährlichen Elbe-Regatten seien seit gut zehn Jahren passé. Überhaupt habe sich sehr viel verändert. Aus dem Vereinshaus geht der Blick über den Fluss hinauf zu Schloss Wachwitz, dem letzten Wohnsitz der Wettiner, und zum Fernsehturm. Der ist in Dresden ein Riesen-Politikum, weil er nach der Wiedervereinigung für die Öffentlichkeit geschlossen wurde. Dabei bietet er ein eigenes Turmcafé und eine grandiose Aussicht über das Elbtal. Die Wiedereröffnung aber scheitert bislang am fehlenden Geld.
„Mit Politik haben wir nicht viel am Hut“, sagt Elisabet Thümmel, mit 77 Jahren die Jüngste am Tisch. „Wir unterhalten uns nur selten darüber.“ Das sei auch gut so, sagt Kloss. „Sonst würden hier die Fetzen fliegen.“ Ihn haben die Corona-Einschränkungen sehr geärgert, auch weil das Vereinsleben praktisch brachgelegen hat. Kaum Wettkämpfe, kaum Boote auf dem Wasser. Am Anfang seines Lebens habe ihm der Krieg den Kanusport vermasselt, und jetzt, am Ende, die Pandemie. „Das ist eben so, damit muss ich zurechtkommen“, sagt er aufgebracht. Immerhin seien sie jetzt alle geimpft, sagt Thümmel.
Und auch zur Wahl im September, versichern sie, würden sie selbstverständlich alle gehen. Dann wechseln sie schnell das Thema. Die Rede kommt auf den Einsatz auf dem vereinseigenen Kanu-Zeltplatz in der Sächsischen Schweiz. In der Saison machen sie dort wochenweise Dienst, betreuen Touristen, halten Ordnung. Neulich seien Kanu-Touristen aus Belgien und Frankreich da gewesen. „Da haben wir uns mit dem Übersetzungsprogramm auf dem Smartphone verständigt“, sagt Göldner stolz.
„Nach der Wiedervereinigung war’s dann ganz schlimm“
Draußen gehen die Tore der Bootshäuser auf, junge Leute strömen mit ihren Kanus zum Ufer. Etwa die Hälfte der 220 Vereinsmitglieder sind Kinder, erzählen die Senioren. Und je mehr draußen die Lautstärke zunimmt, umso mehr strahlen ihre Augen. Seit einigen Jahren kommen wieder mehr Kinder und Jugendliche in den Verein. „Eine wunderbare Sache“, sagt Heinz Göldner. „Wir sind froh, dass unsere Kinder jetzt wieder trainieren können.“ Früher hätten nur Erwachsene im Verein aufgenommen werden dürfen. Erst ab den sechziger Jahren kamen Kinder und Jugendliche hinzu.
Talente wurden gezielt gesichtet und in Trainingszentren abgeordnet, und an den Wochenenden ging’s zu Wettkämpfen. „Nach der Wiedervereinigung war’s dann ganz schlimm“, sagt Dieter Kloss. Die Menschen gingen in den Westen, die Mitgliederzahl halbierte sich, die hauptamtlichen Trainer wurden entlassen. „Das waren Spezialtrainer für Kanu-Rennsport!“, ruft Kloss. „Auf einmal waren die alle weg. Das war ein Hammer!“ Kloss ist eine Art wandelndes Lexikon des Vereins, der gerade mal zehn Jahre älter als er selbst ist. Er hat eine 250 Seiten lange Chronik verfasst.
Die meisten hier haben als Ingenieure gearbeitet, Starkstrom, Feinmechanik, Hochbau, Tiefbau, Konstruktion. Auch eine Lehrerin und ein Personaler sind am Tisch. Sie alle mussten sich nach 1989 neu orientieren, beruflich, gesellschaftlich, manch einer auch privat. Die oft einzige Konstante im Nachwendeleben blieb ihnen der Kanuverein, obwohl sich auch dort fast alles änderte. Aber sie konnten nun die Elbe hinabfahren bis Hamburg, die Mosel und die Altmühl entlang und endlich auch die Donau, die für sie früher nur zwischen Pressburg (Bratislava) und Mohács in Ungarn zugänglich war. „Heute paddeln wir noch im Spreewald“, sagt Elisabet Thümmel. „Genau“, sagt Heinz Göldner. „Und dann mach’mer halt, wo’s was zu essen und zu trinken gibt.“ Alle lachen. Auch Dieter Kloss. Er müsse dann erst mal in den Kraftraum, sagt er. Immerhin hat der jetzt wieder offen.
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