Ein schwarzes Mädchen und ein schwarzer Junge stöckeln in viel zu großen Pumps auf die Bühne des Maxim-Gorki-Theaters Berlin. Abwechselnd drehen sie einander den Rücken zu und pirschen sich von hinten an. Klack, klack, klack, ein Tippen auf die Schulter, ein erschreckter Schrei. Es ist ein seltsames, Unheil verkündendes Spiel, in dem die ganze Tragik und Poesie der fast zweistündigen Aufführung vorweggenommen wird.
Gezeigt wird die Adaption von Olivia Wenzels Autofiktion „1000 Serpentinen Angst“, die vom Heranwachsen einer jungen Frau erzählt, die kurz vor dem Mauerfall geboren wird und mit ihrem Zwillingsbruder die einzige schwarze Person in ihrem Umfeld ist. Der Vater ist früh nach Angola zurückgekehrt, und die Mutter, die seit ihrer Pubertät gegen ihre Unfreiheit ankämpft, nur sporadisch für die Kinder da. Nun will die Tochter die harten biografischen Brüche aufarbeiten, um besser zu verstehen, wer sie ist.
Plötzlich brüllt ein Mann los und hebt den ausgestreckten Arm gen Himmel
In ihrer Inszenierung hat Anta Helena Recke diese fragmentarische, aus Erinnerungsfetzen bestehende Erzählung in den Rahmen einer Familienaufstellung gesetzt. So lernt man nicht nur die Ich-Erzählerin kennen, die subjektiv aus ihrer Vergangenheit berichtet, sondern auch zahlreiche Stellvertreterfiguren: die mütterliche Altpunkerin, den Bügelfaltenhosen-tragenden Vater, die beste Freundin im Boyfriend-Blazer. Die Bühne: Fotoalbum und flimmernde Bildröhre in einem.
In rasantem Tempo wechseln sich Rollenprosa, hitzige Dialoge, kleine Szenen, Tanzeinlagen und detaillierte Bildbeschreibungen ab und springen von einem Schlüsselerlebnis zum nächsten. Eines Tages sitzt die Ich-Erzählerin zusammen mit ihrem Zwillingsbruder am Bahnsteig und wartet auf den Zug, als ein Mann plötzlich losbrüllt und den ausgestreckten Arm gen Himmel hebt.
Immer wieder gibt es Momente wie diesen, die einen kalt erwischen. Gerade hatte man sich doch noch über den halb selbstironischen, halb zynischen Kommentar zum „Interracial Gangbang“ gefreut oder über das Schlabberoutfit mit den kindlich aufgemalten Brüsten. So dauert es einen Moment, bis man begreift, dass es dieselbe Unberechenbarkeit ist, mit der von Rassismus Betroffene täglich leben.
Olivia Wenzel und Anta Helena Recke wissen, wovon sie sprechen. Sie sind selbst schwarz und in der hiesigen Kulturszene gerade ziemlich angesagt. Wenzels Roman stand im vergangenen Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, Recke, Jahrgang 1989, wurde trotz ihres jungen Alters bereits zweimal zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Außerdem wirkte an der Inszenierung auch die Choreografin Joana Tischkau mit, die als Shootingstar der freien Szene gilt.
Schwer auszuhalten, wie diese hippe Kosmopolitin auf ihre psychisch labile Mutter einhackt
Tischkau hat für jede in der Aufführung vorkommende Generation einen passenden Tanzstil entwickelt, mal wildes Gezappel zu Gitarrenriffs, mal Schrittfolgen zu Hip-Hop-Beats. Shari Asha Crosson, die an diesem Abend den meisten Redeanteil hat, spielt die Ich-Erzählerin als trotzige Frau, zu der sich die Sympathien erst entwickeln müssen. Denn bevor man erfährt, wie sehr sie als Kind vernachlässigt wurde, ist es mitunter schwer auszuhalten, wie diese hippe Kosmopolitin, die eloquent über kulturelle Aneignung und Neokolonialismus debattiert, auf ihre psychisch labile, lange nicht so akademische Mutter einhackt. Wie eine „fette Qualle“ treibe sie auf dem See, beschwert sie sich an einer Stelle.
Im Verlauf des Abends reflektiert die Ich-Erzählerin denn auch ihre eigenen Privilegien und entwickelt immer mehr Empathie für die Schwierigkeiten ihrer Vorfahren, die mit geschichtlichen Großereignissen verschnitten werden. „Was gäbe ich dafür, meiner Großmutter und meiner Mutter zu einem unmöglichen Zeitpunkt zu begegnen, an dem wir alle 15 Jahre alt wären“, sagt sie. Und weil so etwas im Theater möglich ist, tauchen daraufhin plötzlich drei Mädchen auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und beginnen, zaghaft miteinander zu tanzen.
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