Der Klimaschutz ist die letzte Hoffnung für die deutschen Atomkraftwerke

Der Klimawandel wird für Hitzerekorde und Flutkatastrophen verantwortlich gemacht. Verfassungsrichter haben Deutschland auf ein sehr geringes CO2-Budget verpflichtet. An der Energiebörse steigen die Preise für Strom und CO2 auf Rekordwerte. Die Kosten für Benzin und Heizöl werden zur sozialen Frage.

Deutschland im Jahr 2021. Ist es klug, wenn die Bundesregierung in dieser Situation klimafreundliche Stromerzeuger vom Netz nimmt, deren Jahresproduktion größer ist als die aller Solaranlagen und aller in den vergangenen zehn Jahren errichteten Windräder? Genau das passiert gerade.

64 Milliarden Kilowattstunden Elektrizität fallen weg

Zum Jahreswechsel lässt die Bundesregierung die Kernkraftwerke Gundremmingen C, Grohnde und Brokdorf abschalten. Ein Jahr später folgen die letzten Meiler Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim II. Deutschland stellt also demnächst sechs Kraftwerke ab, die pro Jahr 64 Milliarden Kilowattstunden klimafreundliche Elektrizität erzeugen. Mehr als alle deutschen Solaranlagen und fast die Hälfte der deutschen Windräder. Der Effekt ist so, als würde der Klimabeitrag von 15.000 der aktuell 30.000 deutschen Windkraftanlagen schlagartig wegfallen.

Es würde viele Jahre dauern, bis neue Wind- und Solaranlagen diese Elektrizität zumindest der Menge nach ersetzen könnten. Zeit, die nach Einschätzung vieler Experten nicht mehr zur Verfügung steht. Um die jederzeit abrufbare Grundlast des Atomstroms zu ersetzen, brauchte es zudem gewaltige Speicheranlagen für den wetterabhängigen Ökostrom, die es noch nicht gibt.

Vorerst müssen Kohle- und Gaskraftwerke die Lücke füllen. „Mitten in einer Klimakrise die verfügbaren Nuklear-Kapazitäten abzuschalten“, schrieb der britische „Guardian“-Autor und Umweltaktivist George Monbiot, sei „eine verfeinerte Form des Irrsinns“.

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Greenpeace-Studie

Zwar werden die Folgen der Energiewende von einigen Wirtschaftsverbänden schonungslos benannt: „Strom wird durch ständige Markteingriffe zum Luxusgut“, mahnte vergangene Woche Reinhold von Eben-Worlée, Präsident der „Familienunternehmer“. „Die De-Industrialisierung ist bereits in vollem Gange.“ Die Standort-Sorgen sind massiv.

Doch eine Laufzeitverlängerung für AKW wird als Option nicht mehr wahrgenommen, obwohl diese Klimaschutz-Maßnahme nicht mit Kosten, sondern mit einem volkswirtschaftlichen Gewinn verbunden wäre. Selbst in Bayern, das schon in fünf Jahren laut einer Prognos-Studie zwei Drittel seines Strombedarfs importieren muss, gibt man sich tapfer: „Die Bayerische Wirtschaft steht zum beschlossenen Ausstieg aus der Kernkraft“, sagt Bertram Brossardt, Chef der Wirtschaftsvereinigung vbw.

So könnte der deutsche Weg des Klimaschutzes schon bald international zur Peinlichkeit werden. Und diejenigen, die nun der Bundesregierung die unschönen Folgen vorrechnen, sind ausgerechnet Organisationen, die sich als Umweltaktivisten sehen. Demnach wird Deutschland in zwei Jahren nicht weniger CO2 ausstoßen als bisher, sondern 50 bis 70 Millionen Tonnen mehr.

Ausgerechnet Braunkohle übernimmt die Rolle der Atomkraft

Das ist pro Jahr eine größere Menge, als die Industrie oder der Verkehrssektor laut Klimaschutzgesetz bis 2030 insgesamt einsparen müssen. Der Grund ist die sogenannte „merit order“, eine Regelung im Strommarkt. Aus ihr folgt, dass hauptsächlich die Braunkohle als billigste grundlastfähige Stromquelle die Rolle der Atomkraft übernehmen wird.

Zahlen wie diese hat Nuklearia publiziert. Dieser Klub der Atombefürworter ging aus einem Arbeitskreis der Piratenpartei hervor und wird seit 2011 von Rainer Klute als unabhängiger Verein geführt. Klutes Sohn hielt sich zur Zeit des Fukushima-Desasters in Japan auf, also arbeitete sich der Diplom-Informatiker und Physiker, nach eigenen Angaben „sehr schnell und sehr gründlich“ in das Thema atomare Risiken und Strahlengefahr ein. Am Ende empfahl Klute seinem Sohn, in Japan zu bleiben.

Seither bereitet Klute seine Erkenntnisse auf der Nuklearia-Website auf, veranstaltet Demos und vertreibt eine Broschüre mit dem Titel: „Klimakrise? Kernkraft! 12 unschlagbare Argumente für die beste Energiequelle der Welt“. Der Verein greift die Bedenken gegen die Atomkraft Punkt für Punkt auf und versucht, sie zu entkräften. Das Endlager-Argument. Die Explosions- und Strahlungsrisiken. Die Versicherbarkeit. Sie werden mit wissenschaftlicher Akribie ins Verhältnis gesetzt, die Nuklear-Unfälle von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima analysiert.

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Immer mehr Katastrophen?

Als das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 2019 zu beweisen suchte, dass Atomkraft „zu teuer“ sei, widmeten sich die Nuklearia-Mitglieder Anna Veronika Wendland und Björn Peters den Aussagen in einem zehnseitigen Artikel im Fachmagazin „atw“. Peters und Wendland, eine Technik-Historikerin, kamen zu dem Urteil, dass bei der DIW-Rechnung „willkürlich ungünstig gewählte Eingangsparameter das Resultat vorherbestimmten und die Methoden der Investitionsrechnung nicht vollumfänglich beherrscht werden“.

Inzwischen setzt sich eine Reihe neuer Klimaschutz-Organisationen für Kernkraft ein. Als im Frühjahr in Brüssel darüber gestritten wurde, welche Energie im Sinne der Taxonomie als „sauber“ gelten können, riefen 49 Pro-Atom-Vereine in einem offenen Brief dazu auf, die Atomkraft auf die Liste zu setzen, darunter Fota4climate aus Polen, Clean Air Task Force aus den USA, Mothers for Nuclear aus der Schweiz oder Nuclear Mythbusters aus Taiwan.

Gemein ist den Gruppen, dass ihre Angst vor dem Atom klein, die vor dem Klimawandel groß ist. „Uns treibt im Grunde dieselbe Motivation wie Fridays for Future“, sagt Amardeo Sarma, Sprecher des Vereins Ökomoderne: „Allerdings halten wir technische Lösungen wie die Kernkraft für entscheidend im Kampf gegen die Erderwärmung.“

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Vernichtendes Urteil

Technisch gesehen, könnten die sechs Kraftwerke länger laufen, teilt der Verein der AKW-Betreiber, Kerntechnik Deutschland, mit. Aber es gebe „inzwischen erhebliche Hürden zum Beispiel bei der Verfügbarkeit qualifizierten Personals und der Beschaffung von Brennelementen“.

Es deutet allerdings nichts darauf hin, dass die Politik mitten im Wahlkampf das Thema noch einmal aufwärmt. Klute entmutigt das nicht. „Nach dem Ausstieg kommt der Wiedereinstieg“, sagt der Nuklearia-Gründer. Sein Verein arbeite schon an einer Strategie.

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