Im Amsterdamer Verzetsmuseum, das sich dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs widmet, hängt eine Karte. Etwa einen Quadratmeter groß, mit Hunderten Punkten. Sie zeigt, wie die jüdische Bevölkerung im Mai 1941 über Amsterdam verteilt war: Ein Punkt steht für zehn Menschen. Die Nazis hatten die Karte bei der eilfertigen Stadtverwaltung in Auftrag gegeben, um der jüdischen Bewohner möglichst leicht habhaft werden zu können. Die Deportationen begannen im Juli 1942. Hätte man die Karte Ende 1944 noch einmal gezeichnet, es wären wenige Punkte übriggeblieben. In den Niederlanden gingen die Deutschen besonders gründlich vor.
Von den 80 000 Menschen jüdischer Abstammung in Amsterdam, einer Stadt mit jahrhundertealter jüdischer Tradition, überlebten nur etwa 15 000. Insgesamt ermordeten die Nazis 102 000 von 140 000 Jüdinnen und Juden im Land sowie 220 Sinti und Roma. Geblieben ist kaum etwas von ihnen, nicht einmal ein Grab haben sie, an ein paar wenige erinnern Stolpersteine. Seit voriger Woche ist das anders. Das Gedenken hat jetzt eine angemessene Form und einen würdigen Ort. An der belebten Wesperstraat, mitten im ehemaligen jüdischen Viertel der Stadt, wurde nach 15-jährigen Vorarbeiten, zwei Anläufen und reichlich Ärger das „Nationale Holocaust Namenmonument“ eröffnet.
Kinder finden ihren Familiennamen. Und sind ergriffen, wenn sie lesen, wie jung die Menschen waren
Das Werk des polnisch-amerikanischen Architekten Daniel Libeskind, der selbst 85 Familienmitglieder in Vernichtungslagern verlor, besteht aus Backsteinen, für jeden Ermordeten einen. Eingraviert sind Name, Geburtsdatum und Alter zum Zeitpunkt des Todes. Übereinander geschichtet zu insgesamt 380 Meter langen Wänden, ergeben die Steine von oben betrachtet die vier hebräischen Buchstaben des Wortes „lezecher“: Erinnerung. Oben drüber reflektieren scharfkantige, typisch Libeskind’sche Spiegelflächen den Himmel, die Bäume – und den Betrachter.
Zur Einweihung kamen König und Premierminister, Überlebende und Angehörige der Opfer, es war ein Anlass, der das politisch gerade so zerstrittene Land für einen Moment zur gemeinsamen Besinnung brachte. Jedes Opfer habe hier nun seinen eigenen Gedenkort, sagte der amtierende Regierungschef Mark Rutte. „Dieses Mahnmal sagt 102 163 Mal: Nein, wir vergessen euch nicht. Nein, wir lassen nicht zu, dass euer Name ausgelöscht wird. Nein, das Böse hat nicht das letzte Wort.“ Bürgermeisterin Femke Halsema sprach von einer „Festung zwischen uns und dem Vergessen“.
Wenige Tage später. Einige Dutzend Menschen streifen am frühen Nachmittag durch das Monument, grauhaarige Frauen mit Töchtern, ganze Familien, Studiengruppen, auch Einzelne. Sie suchen die Wände ab, fassen einzelne Steine an, manche schauen stumm, andere reden und gestikulieren. Dieser Ort funktioniert: weil er die Menschen sinnlich anspricht, bar jeglicher Didaktik. Und weil er eine Lücke schließt. Die lokalen Medien sind voll mit Berichten über Besucher, die einerseits fast euphorisch sind, weil sie vielleicht zum ersten Mal ein Zeichen ihrer Vorfahren vor Augen haben, und zugleich von Trauer überwältigt werden. Allein der Anblick gleich mehrerer Stein-Reihen mit demselben Familiennamen lässt einen erstarren: „Aandagt“, „Abraham“, „Agsteribbe“, ausgelöscht in allen Zweigen und Generationen.
Ein erster Entwurf scheiterte. Es werde zu laut im Viertel, beschwerten sich die Anwohner
Schulkinder finden ihren Familiennamen. Und sie sind ergriffen, wenn sie lesen und verstehen, wie unfassbar jung die Menschen waren, als sie sterben mussten. „Abend für Abend fahren die grünen oder grauen Militärfahrzeuge vorbei“, schrieb Anne Frank Ende 1942 in ihr Tagebuch, „und an jeder Tür wird geklingelt und gefragt, ob da auch Juden wohnen. Niemand wird geschont. Alte, Kinder, Babys, schwangere Frauen, Kranke… alles, alles geht mit in dem Zug zum Tod.“ Auf ihrem Backstein trägt die Schriftstellerin, die 1945 im KZ Bergen-Belsen starb, ihren offiziellen Namen, „Annelies“, geboren am 12. Juni 1929.
Henk Schröder hat diesen Stein gerade gefunden. Der 78-Jährige kommt sofort ins Erzählen. Vor 16 Jahren restaurierte er in Diensten einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft jene Wohnung am Merwedeplein 37, in der die Franks von 1934 an lebten. Sie wäre beinahe auf dem Immobilienmarkt gelandet. Das berühmte Foto, das Anne an ihrem Schreibtisch sitzend zeigt, ist dort entstanden. „Die Spiegelungen des Mahnmals werden viele Anwohner nerven“, nörgelt Schröder, der selbst Architekt ist. Um sofort hinzuzufügen: „Ich bin sehr froh damit, es wird bleiben für lange Zeit.“
Dieser Ort ist das Lebenswerk eines Mannes, Jacques Grishaver, 79. Er wurde geboren im Jahr nach der Besatzung, ist mit den Eltern untergetaucht und hat mit viel Glück überlebt. Von seiner Familie blieben zwei Brüder und die Eltern, die Mutter war schwer traumatisiert. Erst mit 50 und nach jahrelangen Depressionen konzentrierte er sich auf seine jüdische Identität, wurde Vorsitzender des Nationalen Auschwitz-Komitees, organisierte Fahrten in das KZ. Dort kam ihm 2005 auch die Idee zu diesem Mahnmal, als er sah, wie die Menschen eine Wand mit den Namen der 60 000 in Birkenau ermordeten Niederländer betrachteten und anfassten. „Wenn dein Name nicht mehr genannt wird, dann hast du niemals gelebt“, sagt er.
Grishaver ging ans Werk, zielstrebig, hartnäckig, mit dem 2017 verstorbenen Bürgermeister Eberhard van der Laan im Rücken. Es gab Zweifler, auch Konkurrenten, etwa die Hollandsche Schouwburg, jenes frühere Theater, in dem viele Amsterdamer vor der Fahrt ins Übergangslager Westerbork zusammengepfercht worden waren. In dem heutigen Museum, das derzeit renoviert wird, gibt es schließlich schon eine Namenwand. Ein erster Entwurf Grishavers, geplant im nahen Wertheimpark, scheiterte 2015 an Protesten der Anwohner. Man wechselte zum jetzigen Ort, wieder wurde protestiert, es werde zu voll und zu laut im Viertel; Künstler und Architekten schrieben einen Brandbrief, andere klagten bis zum höchsten Gericht.
Grishaver gewann. Mit angeblich nicht nur lauteren Mitteln, wie zu lesen ist. Wie ein „Straßenkämpfer“ habe er agiert, allzu schnell die Antisemitismus-Keule geschwungen, solche Dinge. Freunde habe er sich jedenfalls keine gemacht mit seinem brachialen Vorgehen, heißt es von vielen Seiten. Aber eben auch, dass es ohne ihn wohl nicht zu diesem Mahnmal an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt gekommen wäre. Das nötigt sogar einem seiner härteren Widersacher, dem Schouwburg-Vertreter Joop Wertheim, ein „Kompliment“ ab.
Und nun steht es da, und es ist gut so. Nicht zuletzt als Zeichen gegen die Geschichtsvergessenheit in den Niederlanden. Es ist nur wenige Tage her, dass der rechtsextreme Parlamentsabgeordnete Thierry Baudet in einem Tweet den „Holocaust“ in Anführungszeichen setzte und den „Juden“ in einer Debatte zurief, der Krieg gehöre ihnen nicht allein, es sei „auch unser Krieg“. Er wurde scharf kritisiert. Aber die Aufregung hat sich längst wieder gelegt.
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