Wie das Coronavirus im Osten zum aggressiven Politikum mutierte

Die erste und die zweite Corona-Impfung hatte sich Reiner Haseloff im Frühsommer noch ohne Pressebegleitung verpassen lassen. Als der christdemokratische Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt am vergangenen Donnerstag in Wittenberg seine Booster-Dosis erhielt, waren Fotografen dabei. „Ich nehme gerne Moderna und lasse mich damit aus tiefster fachlicher Überzeugung impfen“, sagte der promovierte Physiker – und krempelte den linken Ärmel hoch.

Haseloff wollte ein Zeichen setzen. „Ich hoffe, dass jetzt auch die Ungeimpften ihre Meinung ändern.“ Die Quote müsse dringend steigen, „sonst werden wir große Schwierigkeiten bekommen“.

Ministerpräsident Haseloff lässt sich in Wittenberg «boostern

Quelle: dpa/Ronny Hartmann

Impfappelle sind vor allem im Osten dringend nötig. Einen vollen Schutz haben in Sachsen-Anhalt, Stand 29. November, nur 65 Prozent der Bevölkerung. In Thüringen und Brandenburg sind die Werte noch schlechter, das nationale Schlusslicht bildet Sachsen mit 58,1 Prozent. In den westlichen Ländern liegt die Quote meist deutlich höher, in Bremen sogar bei mehr als 80 Prozent. Die Ostdeutschen, ein Volk von Impfmuffeln? Als die Pandemie sich im März 2020 in der Bundesrepublik verbreitete, wurde noch das Gegenteil angenommen.

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Nicht nur Haseloff ging damals davon aus, dass die Ostdeutschen besser durch die Krise kommen würden als Westdeutsche. Ehemalige DDR-Bürger, so lautete die These, könnten in Ausnahmesituationen besser improvisieren, staatliche Autorität werde „stärker akzeptiert als im Westen“, so Haseloff Ende März 2020 im WELT-Interview. „Auch die Impfbereitschaft ist im Osten höher“, das zeige schon die Tatsache, dass „wir hier weniger Probleme mit der Ausbreitung von Windpocken oder Masern haben“.

Der anfängliche Optimismus, den Haseloffs ostdeutsche Kollegen teilten, war historisch gut begründet. Denn in der DDR waren „die staatlichen Impfkampagnen etwa bei Kinderlähmung auf sehr hohe Akzeptanz in der Bevölkerung“ gestoßen, sagt Hartmut Bettin, kommissarischer Leiter des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Greifswald.

Impfangst gab es zu DDR-Zeiten kaum: „In Eingaben der Bürger an die Staatsführung finden sich nur wenige Proteste gegen die Impfkampagnen, die allgemein als Erfolgsgeschichte gerade auch der eigenen medizinischen Wissenschaft erlebt und begrüßt wurden.“

Bei anderen Krankheiten sind Impfquoten im Osten höher als im Westen

So konnte die Kinderlähmung in der DDR binnen weniger Jahre schneller als im Westen faktisch ausgerottet werden – und das ohne Druck von oben, wie Bettin betont. Die Haltung vieler gegenüber den Vakzinen zu Covid-19 lasse sich „nicht als Fortsetzung gesundheitsbezogener Verhaltensmuster aus DDR-Zeiten charakterisieren“.

Dass sich eine größere Zahl von Menschen in Ostdeutschland bei den Corona-Impfungen ganz anders als erwartet verhält, ist umso bemerkenswerter, als sich das sonstige Impfverhalten weiterhin im Rahmen dortiger Prägungen bewegt. Bei allen anderen Krankheiten, gegen die es Vakzine gibt, liegen die Impfquoten in Ostdeutschland laut einer Statistik des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom November 2020 deutlich über denen im Westen.

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Die Quote bei der Standardimpfung gegen die Grippe betrug 2019/2020 in Sachsen-Anhalt 62 Prozent, aber in Baden-Württemberg weniger als 24 Prozent. Bei Pneumokokken standen 37 Prozent in Sachsen 15 Prozent in Bayern gegenüber. Auch bei Diphtherie, Tetanus oder Keuchhusten gilt: Der Anteil der Geimpften ist im Osten sehr viel höher als im Westen.

Und es gibt bisher auch keinen Hinweis, dass junge ostdeutsche Eltern seit Corona häufiger eine Verabreichung der notwendigen Impfungen gegen jene anderen Krankheiten bei ihren Kleinkindern verweigern würden.

Bei Corona aber ist alles anders. Das Virus hat sich vor allem im Osten in ein aggressives Politikum verwandelt. Am vergangenen Wochenende zogen hunderte Corona-Leugner trotz Verboten in mehreren sächsischen Städten auf, Zufahrten zu Krankenhäusern wurden blockiert. Protestmärsche finden im Freistaat fast täglich statt, auch vor privaten Wohnsitzen von Regierungschefs wie Michael Kretschmer (CDU) oder Bodo Ramelow (Linke).

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Die Sicherheitsbehörden sind angesichts der Radikalisierung besorgt. Vor allem Rechtsextremisten haben nach Einschätzung von Verfassungsschützern die Protestbewegung im Osten regelrecht gekapert. Impfverweigerung gilt ihnen als Widerstand gegen eine De-facto-Diktatur, die beseitigt werden müsse.

Während sich die Szene etwa in Baden-Württemberg eher aus dem „alternativmedizinischen“ Milieu rekrutiere, seien die Proteste im Osten „stärker von der extremen Rechten geprägt“, bestätigt eine Studie der Soziologen Nadine Frei und Oliver Nachtwey über das „Querdenkertum“.

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Vierte Corona-Welle

Eine Erhebung des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt beschreibt zudem starke Korrelationen zwischen Corona-Inzidenzen und AfD-Wahlerfolgen. „Vor allem in Regionen, in denen schon über längere Zeiträume die Wahl rechtsextremer Parteien auf eine stärkere Normalisierung und Verbreitung rechtsextremer Einstellungen hinwies, stiegen die Covid-19-Inzidenzen im Untersuchungszeitraum signifikant stärker an“, schreiben die Autoren.

Alarmierende Befunde liefert auch eine Studie der Sozialwissenschaftler Tobias Spöri und Jan Eichhorn. Sie kommen zwar zu dem Ergebnis, „dass 2021 weniger Personen in Deutschland Corona-Verschwörungsmythen anhängen als im Jahr zuvor“. Der Anteil sank zwischen 2020 und 2021 von rund 15 Prozent auf rund neun Prozent.

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Quelle: WELT/ Marco Reinke

Aber: Der Anteil derer, nach deren Ansicht „mit der Verbreitung des Virus eine Gruppe von mächtigen Menschen Profit machen“ und ein Land andere Länder „destabilisieren“ wolle, ist in einem bestimmten Bundesland auf den Höchstwert von 28 Prozent sogar noch gestiegen. Auch der „harte Kern“ von Verschwörungsideologen, die nach Einschätzung der Autoren mit Argumenten kaum noch zu erreichen sind, ist dort mit 22 Prozent so hoch wie nirgends sonst in der Republik.

Man ahnt: Das Bundesland, von dem die Rede ist, heißt Sachsen.

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