Die Deutschen haben zunehmend Angst um ihr Geld. Fast jeder vierte Bundesbürger rechnet mit einer Verschlechterung der eigenen finanzielle Lage im Jahr 2022, zeigt die Studie „Verbraucher in Deutschland“ der Beratungsgesellschaft EY, die WELT exklusiv vorliegt.
Der Selbstprognose-Wert hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt und liegt nun auf dem höchsten Stand seit dem Jahreswechsel 2008/2009, also zu Zeiten der damaligen Finanzkrise. „Heizen, Benzin, Lebensmittel – vieles ist teurer geworden“, beschreibt Henrik Ahlers, der Vorsitzende der Geschäftsführung von EY Deutschland.
„Das merken die Verbraucher in ihrer Geldbörse. Und sie sehen, dass das erhoffte Ende der Pandemie in immer weitere Ferne rückt. Da fällt es vielen Menschen schwer, noch zuversichtlich in die Zukunft zu schauen.“
Zwar gehen Wirtschaftsforscher von einem Konjunkturaufschwung im Jahr 2022 aus. „Die Realität ist für viele Menschen aber eine andere, gerade für diejenigen mit geringeren Einkommen und in den von Einschränkungen betroffenen Dienstleistungssektoren. Sie sehen kurzfristig keine Verbesserung und spüren zudem die hohe Inflation“, kommentiert Ahlers.
Daher hat sich auch nicht nur die Erwartung verschlechtert – auch mit der aktuellen Lage der persönlichen Finanzen sind zunehmend viele Haushalte unzufrieden. 17 Prozent der knapp 1500 im November telefonisch befragten Verbraucher beurteilen ihre wirtschaftliche Situation als negativ. Das ist ein Plus von zehn Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahreswert und markiert ebenfalls den höchsten Stand seit 2008.
Grund dafür sind laut Studie vor allem die gestiegenen Energie- und Lebenshaltungskosten. Und die bleiben auch weiterhin ein beherrschendes Thema: 52 Prozent der Bundesbürger machen sich aktuell große, weitere 39 Prozent zumindest leichte Sorgen angesichts der hohen Preise für Strom, Gas und Heizöl.
Ähnlich ausgeprägt ist auch die Unruhe bezüglich steigender Lebenshaltungskosten. Hier machen sich 48 Prozent der Befragten große und weitere 39 Prozent noch leichte Sorgen, ob der daraus entstehenden Folgen für ihre finanzielle Lage.
Zum Vergleich: Vor einem Jahr lag der jeweilige „Große Sorgen“-Wert in Sachen Energiekosten 28 Prozentpunkte und bezüglich der Alltagsartikel immerhin 20 Prozentpunkte niedriger. Eine ähnliche Steigerungsrate auf der Sorgenskala hat derzeit nur das Thema Flüchtlingskrise, das für die Menschen durch die Bilder von der polnisch-belarussischen Grenze wieder präsent geworden ist.
Umgekehrt sind die Befürchtungen vor einem Einkommens- oder Arbeitsplatzverlust vielfach verschwunden. Für 61 beziehungsweise 79 Prozent der Befragten ist das aktuell kein Thema mehr. Wohl auch aus Erfahrung.
„Die Bundesregierung hat mit den großzügigen Kurzarbeiterregeln dafür gesorgt, dass es nicht zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit kam und dass sich die Einkommensverluste von betroffenen Arbeitnehmern in Grenzen hielten“, erklärt Experte Ahlers. Auch hätten die Unternehmen ihren Beitrag geleistet und zum einen das Kurzarbeitergeld zusätzlich aufgestockt und zum anderen auf Entlassungen weitgehend verzichtet.
Darüber hinaus macht den Bundesbürgern auch eine mögliche Krankheit nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie deutlich weniger zu schaffen. Nur noch 24 Prozent haben davor große Sorge. Allerdings stammt die Umfrage noch aus der Zeit vor dem zunehmend dominierenden Aufkommen der Omikron-Variante des Covid-19-Virus.
Als Reaktion auf ihre neuen Sorgen wollen die Deutschen 2022 vermehrt sparen. Bald jeder zweite Konsument will auf größere Einzelanschaffungen wie Autos oder Möbel verzichten. Aber auch Kleidung und Unterhaltungselektronik wie Smartphones oder Tablets stehen laut der EY-Umfrage bei vielen Verbrauchern auf der Streichliste. Dazu ist weniger Geld für Renovierungsarbeiten eingeplant.
Bestätigt wird dieser Trend auch von anderen Studien, etwa vom Global Consumer Insights Pulse Survey der Beratungsgesellschaft PriceWaterhopuseCoopers (PwC). „Die Verbraucher achten angesichts der steigenden Inflation in den letzten Monaten verstärkt auf die Preise und versuchen zu sparen“, sagt Christian Wulff, der Leiter des Bereichs Handel und Konsumgüter bei PwC Deutschland.
Die Zeit der Schnäppchenjäger scheint damit zurück. Das zeigen auch Daten des Zahlungsdienstleisters Klarna zum sogenannten Black Friday, an dem nicht mehr nur der Onlinehandel, sondern zunehmend auch die Stationärgeschäfte hohe Rabatte versprechen. „Die Black Week und der Cyber Monday wurden in diesem Jahr von den Konsumenten stärker denn je angenommen“, berichtet Thomas Vagner, der Deutschland-Chef von Klarna.
Millionen Verbraucher hätten bei diesem Event ihre Weihnachtseinkäufe getätigt – und zwar nicht nur die jungen und ohnehin digital-affinen Zielgruppen, sondern Käufer über alle Altersgruppen hinweg. Unter dem Strich steht Klarna zufolge ein Zuwachs bei den Verkäufen in Höhe von 43 Prozent. Beliebteste Kategorien waren Kinderprodukte, Elektronikartikel sowie Schmuck und Accessoires.
Für ausgewählte Bereiche indes legen sich die sparsamen Deutschen derzeit offenbar Geld zurück. Laut EY-Befragung jedenfalls werden für Urlaube höhere Budgets reserviert als im Vorjahr. „Wir sehen hier unterschiedliche Effekte“, beobachtet Ahlers.
„Während die Bevölkerung nach mehreren Lockdowns und Reisebeschränkungen offenbar ein gewisses Fernweh verspürt und wieder Urlaub machen möchte, tritt bei der Einrichtung in den eigenen vier Wänden der gegenteilige Effekt ein: Viele haben in den vergangenen beiden Jahren bereits ihre Wohnung beziehungsweise ihr Haus eingerichtet oder renoviert. Und wer das nicht getan hat, steht derzeit vor einer Herausforderung, weil entweder Handwerker oder Material fehlen.“
Doch längst nicht jeder hat derzeit noch die Wahl, ob er 2022 sparen will oder nicht. Vielerorts steigen die Zwänge. Entsprechend unterschiedlich fällt die Bewertung der eigenen Kassenlage in den verschiedenen Einkommensklassen aus.
Während zum Beispiel 71 Prozent der Befragten mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 70.000 Euro oder mehr ihre derzeitige finanzielle und wirtschaftliche Situation positiv einschätzen, sind es bei den Haushalten mit weniger als 25.000 Euro Nettoeinkommen lediglich zwölf Prozent. Fast jeder zweite Bürger mit einem Einkommen von bis zu 25.000 Euro sagt zudem, dass sich der Lebensstandard im Vergleich zu dem vor zehn Jahren verschlechtert hat, nur 27 Prozent sehen eine Verbesserung.
Auf der anderen Seite sind 76 Prozent der Gutverdiener mit einem Einkommen von mehr als 70.000 Euro mit der Entwicklung ihres Lebensstandards zufrieden. „Menschen mit hohen Einkommen waren in den Pandemie-Zeiten überdurchschnittlich häufig im Homeoffice und konnten zudem durch den Verzicht auf teure Fernreisen, Theater- und Restaurantbesuche oder ähnliches Geld sparen“, erklärt Studienautor Ahlers.
„Personen mit niedrigeren Einkommen waren auf der anderen Seite insgesamt stärker von Kurzarbeit betroffen – etwa in der Gastronomie und Hotellerie, wo bekanntlich keine besonders hohen Gehälter gezahlt werden.“ Zudem hätten sich die Aktienmärkte zuletzt sehr gut entwickelt. „Davon kann allerdings nur profitieren, wer auch Aktien besitzt.“
Ahlers sieht damit die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland noch weiter auseinander. „Die Befragung zeigt, dass die Gefahr besteht, dass die Gesellschaft finanziell weiter auseinanderdriftet.“ Wer wenig verdient, habe es schwer aufzusteigen und sehe kaum Perspektiven für eine Verbesserung der eigenen Lage.
„Das ist ein beunruhigender Befund“, warnt der Experte. Zumal gerade die Chancen für Aufstieg durch Bildung eigentlich so gut sein sollten wie selten zuvor, meint Ahlers. „Der Fachkräftemangel, der heute schon in vielen Branchen als Hauptproblem wahrgenommen wird, dürfte sich in den kommenden Jahren noch deutlich verstärken. Viele Unternehmen suchen händeringend nach qualifizierten Mitarbeitern.“
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