Wenn Nikolaus Wiegand die Lage beschreiben soll, atmet er zuerst durch. Wie nähert man sich auch etwas, das in den 26 Jahren, seit er das oberfränkische Unternehmen Wiegand-Glas leitet, so einmalig ist: Energiepreise, die durch die Decke gehen, ein Krieg in Europa und jeder neue Tag eine Wundertüte. „Planen kann man vergessen“, sagt Wiegand schließlich. Ein bisschen ähnle das vielleicht dem Anfang der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020, als man sich gefragt habe, wie lange die Lieferketten standhalten würden. Aber das, was sich heute bei den Energiepreisen abspiele, „das ist kein Markt mehr“, sagt Wiegand. „Das ist jenseits des Markts.“
Überall in Bayern beschäftigen Unternehmer dieser Tage vor allem zwei Fragen: Was kostet mich die Energie für meine Anlagen morgen? Und wie viel zahle ich dabei drauf? Was daraus für eine Branche und eine ganze Region folgt, lässt sich im Landkreis Kronach besonders gut beobachten. Dort ist die Glasindustrie noch groß. Und energiehungrig. Um Glas in Form zu bringen, müssen die Betriebe ihre Pfannen auf 1600 Grad Celsius erhitzen, meist mit Strom und Erdgas. Rot glühend kommen die Flaschen und Scheiben dann zum Vorschein. Derzeit kann man förmlich zusehen, wie dabei Geld verbrennt.
Über hohe Strompreise klagen Wirtschaftsvertreter schon seit Jahren. So groß wie jetzt allerdings waren die Nöte noch nie. Wer daher bei Wiegand in Steinbach am Wald anruft, erlebt einen Unternehmer, der einerseits frustriert wirkt, andererseits die Misere pragmatisch zu nehmen versucht. Wiegand-Glas beschäftigt knapp 2000 Menschen an mehreren Standorten, sie recyceln unter anderem PET-Flaschen und machen aus Altglas neue Flaschen. Ein gutes Geschäft: Im vergangenen Jahr lag der Umsatz bei 508 Millionen Euro, dieses Jahr könnte er sogar noch einmal deutlich zulegen. „Eigentlich sind wir ein gesundes Unternehmen“, sagt Wiegand.
Wenn da nicht die immer weiter steigenden Energiepreise wären. Wie ernst die Lage schon war, bevor der Krieg vermeintliche Gewissheiten über den Haufen warf, lässt sich an einem Video ermessen, das Wiegand-Glas und zwei andere Glasbetriebe Mitte Februar ins Netz stellten. Titel: „Alarmstufe Rot“. Auch ein Vertreter der örtlichen Industrie- und Handelskammer (IHK) und der Landrat von Kronach treten darin auf, es geht um Existenzängste und aufgeschobene Investitionen, die Sorge vor Stellenabbau und Standortschließungen. In dem Film rechnen die Glasbetriebe für 2022 mit einem Plus von 500 Prozent bei den Energiepreisen, verglichen mit den Vorjahren. Inzwischen habe „die Volatilität“ weiter zugenommen, berichtet Wiegand, „leider nur in eine Richtung“. Und mit Aufschlägen auf die eigenen Produkte können Hersteller, egal aus welcher Branche, nur bedingt gegensteuern. Einen Kasten Bier für 30 oder 40 Euro, wer kauft den schon.
Das Video ist als Warnruf zu verstehen
Noch ist es nicht so, dass am Rennsteig die Insolvenzverwalter bei den Betrieben anklopfen müssten. Das Video ist als Warnruf zu verstehen – den Unternehmer in anderen Ecken des Freistaats unterschreiben würden. Doch in Nordostbayern wirken die Nöte anders, direkter. Der Lauf der Zeit hat dort schon die Textil- und Porzellanindustrie zusammengeschrumpft, bedroht jetzt den Autobau und durch den Klimawandel sogar die schier unerschöpflich scheinende Ressource Wald. Am Telefon vergleicht ein örtlicher Politiker das Kronacher Dasein mit Sisyphos: als ewiges Ankämpfen gegen schlechte Infrastruktur, erst als Zonen-, jetzt als Freistaatsrandgebiet.
Ein Aus der Glasindustrie würde die Region also hart treffen. Die IHK geht davon aus, dass in Nordoberfranken und Südthüringen mindestens 5000 Menschen in der Branche beschäftigt seien, hinzu „kommen weitere rund 2500 Beschäftigten in direkt vor- und nachgelagerten Gewerben“. Auch Landrat Klaus Löffler (CSU) ist alarmiert. Früher war er Bürgermeister von Steinbach am Wald, er kennt also aus erster Hand die Bedeutung der Glasbetriebe. Auf seine Teilnahme am Video habe er „überwältigende Resonanz“ erfahren, sagt er. Die Menschen spürten die Gefahren für den Wirtschaftsstandort – „und sie wissen, wenn die Kinder in unserer Heimat eine Chance haben wollen, dann müssen hier Weichen für die weitere Prosperität gestellt werden“.
Aus Sicht vieler Wirtschaftsvertreter heißt das: Deutschland und Bayern brauchen mehr Autarkie und Sicherheit in Sachen Energie. Wie schwierig wiederum der Schritt von der Theorie in die Praxis ist, lässt sich ebenfalls im Landkreis Kronach studieren. Zum Beispiel bei Heinz-Glas in Kleintettau, zehn Autominuten von Steinbach am Wald entfernt. Wie Wiegand-Glas ein Betrieb mit jahrhundertealter Geschichte, allerdings etwas kleiner, Weltmarktführer bei Parfumflakons. Chefin Carletta Heinz schätzt, dass sie sich mit zehn eigenen Windrädern unabhängiger vom Energiemarkt machen könnte. Aktuell werde nach passenden Standorten gesucht, was die gesetzlichen Vorgaben nicht unbedingt einfacher machten: „Die bayerische Regierung tut sich mit Windrädern ja etwas schwer“, sagt Heinz, Stichwort 10-H-Abstandsregel.
Zehn Windräder, das klingt machbar und stößt skaliert doch an Grenzen. Auch bei Wiegand-Glas haben sie das ja einmal durchgerechnet, am Ende stand ein Bedarf von 100 Windrädern. Noch ein paar mehr dürften es werden, nimmt man die übrige Industrie hinzu: Allein die Glasfirmen am Rennsteig verbrauchen gemeinsam so viel Strom wie eine Stadt mit 400 000 Einwohnern. Und weil die Pfannen rund um die Uhr laufen, bräuchte es zusätzlich Energiespeicher für stille Tage. Denkbar ist da Wasserstoff. Doch von dem gibt es hierzulande laut Studien auf absehbare Zeit nicht genug, außerdem benötigt seine Herstellung ebenfalls Grünstrom oder Erdgas. Trotzdem hat die Glasindustrie am Rennsteig schon mal ein Wasserstoff-Projekt gestartet. Eine Million Euro gibt der Freistaat dazu.
Wind? Solar? Wasserstoff? Die Lösung der Energiefrage ist der Schlüssel
Auch für Löffler ist die Lösung der Energiefrage der Schlüssel. Ob Wind, Solar, Wasserstoff oder Ammoniak, alle Energieformen müssten „geprüft und ausgebaut“ werden, mittel- und langfristig. „Kurzfristig geht es ums Überleben mit dem herkömmlichen Energiemix.“ Dabei schwebt Löffler für seinen Landkreis eigentlich Großes vor. Der soll 2030 weiter Industrie besitzen, idealerweise verzahnt mit dem Lucas-Cranach-Campus in Kronach; plus einen Mix aus Handwerk und Tourismus, bezahlbarem Wohnraum, gute Gesundheitsversorgung und Anbindung an den Fernverkehr. Und es gibt ja noch positive Nachrichten: Loewe, der einst insolvente Hersteller von TV- und Audiogeräten, plant Investitionen von 25 Millionen Euro am Firmensitz in Kronach. Aktuell arbeiten dort knapp 200 Menschen, man sei „gut unterwegs“, sagt ein Unternehmenssprecher.
Am Rennsteig steht den Glasbetrieben der Sinn weniger nach schönen Visionen, mehr nach schneller Hilfe und klaren Energiekonzepten. In ihrem Video fordern sie eine Deckelung der Energiepreise. „Ich bin kein Freund von Subventionen“, sagt Wiegand, aber ohne staatliche Hilfe gehe es diesmal nicht. Darüber hinaus will er keine Prognosen anstellen, wie sich der Markt in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt: Man werde halt versuchen, das Geld zusammenzuhalten.
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