„Blumenstrauß“, liest Lukas, 9, vor und als er sich erinnert, dass er das Wort ja auch immer erklären soll, fügt er hinzu: „Das sind ganz viele Blumen auf einem Haufen.“ Zu „Mai“ sagt Rubina, 8,einfach nur: „Das ist ein Monat.“ Frühlingswort für Frühlingswort erklärend – so wie es ihnen ihre Lehrerin Magdalena Leibl aufgetragen hat -, schleichen die beiden den Flur vor dem Klassenzimmer der 3a entlang, immer dicht gefolgt von Tatjana, die ihren Bruder Ivan im Rollstuhl vor sich herschiebt.
Es ist der Montag nach den Osterferien, kurz nach 9 Uhr. Die zweite Stunde ist in vollem Gange. Gerade noch sind alle kreuz und quer durch das Klassenzimmer gelaufen, nun haben sich die meisten Kinder über ihr braun eingeschlagenes „Kraut-und-Rüben-Heft“ gebeugt und schreiben auf, welche Frühlingswörter ihnen im Kopf geblieben sind – nur Tatjana und Ivan blicken etwas verloren drein. Doch da kommt schon Magdalena Leibl, drückt den beiden je ein Tablet in die Hand. Mit viel Gestikulation zeigt die Lehrerin den beiden, dass sie auf die bunten Symbole drücken müssen, damit ihnen das deutsche Wort noch einmal vorgelesen wird. Ivan drückt auf eins. Eine weibliche Stimme liest vor: „Blu-men-strauß“.
Die zehnjährige Tatjana und ihr Bruder Ivan, der vor wenigen Tagen neun geworden ist, sind zwei von insgesamt zehn ukrainischen Kindern, die seit wenigen Wochen die Grundschule in Petershausen besuchen. Geflohen sind sie aus Kirovograd im Herzen der Ukraine, wie so viele ohne den Vater. Wie die anderen acht Flüchtlingskinder, die nun in Petershausen die Grundschule besuchen, sind sie mit der ersten Flüchtlingsbewegung zu Beginn des Kriegs gekommen. Im ganzen Landkreis gibt es, Stand Montagmorgen, 251 von ihnen. Zum Teil werden sie wie Tatjana und Ivan in Regelklassen unterrichtet, zum Teil in sogenannten Willkommensklassen oder in Sprachförderklassen. Der Großteil besucht laut Sina Török vom Landratsamt die Grund- und Mittelschulen, einige auch die Berufsschulen.
Fragt man Schulleiterin Alexandra Wolff im Vorfeld, wie die Eingewöhnung der Neuankömmlinge so laufe, sagt sie: „Das ist schon herausfordernd.“ Da sei zum einen natürlich die Sprachbarriere. Zum anderen blicke man aber in eine ungewisse Zukunft. Einige der Eltern würden zwar signalisieren, vorerst bleiben zu wollen, viele würden allerdings am liebsten so schnell wie möglich wieder zurück in die Heimat. Ob und wann eine Rückkehr in die Ukraine möglich sein wird, ist jedoch mehr als unklar. An den Familien nagt die Ungewissheit, von den Landkreisschulen erfordert die Situation eine gewisse Spontanität – wohl auch noch bei der Planung des kommenden Schuljahres im Herbst.
An der Petershausener Grundschule hat man sich auf die ukrainischen Kinder gefreut
Für die Schülerinnen und Schüler der Klasse 3a ist die Sache indes ganz einfach: Sie freuen sich über ihre neuen Klassenkameraden und potenziellen neuen Freunde, Sprachbarriere hin oder her. „Kinder sind da ganz unkompliziert“, ist auch Wolffs Eindruck. Als klar gewesen sei, dass ihre Grundschule Kinder aufnimmt, erzählt die Schulleiterin, hätten sich jedenfalls nahezu alle gewünscht, dass auch welche in ihre Klassen kommen. Letztlich haben sie die ukrainischen Kinder über alle elf Klassen verteilt, in jeder sind maximal zwei untergebracht. Was sie machen, wenn es mehr werden? Das schauen sie dann.
Nicht nur um ukrainische Schulkinder ist Wolff bemüht, auch über Lehrkräfte aus der Ukraine würde sie sich freuen. Mit zweien sei sie auch bereits im Gespräch gewesen, doch aus Angst, „nicht zurückzukommen“, sei es bislang nicht zu einer Vertragsunterzeichnung gekommen – obwohl Wolff versichern kann, dass niemand gezwungen werden wird, zu bleiben, wenn der Krieg in der Ukraine einmal beendet ist. Sie hofft, spätestens im neuen Schuljahr auf Unterstützung durch ukrainische Lehrkräfte.
„Wir können uns nicht dreiteilen.“
Denn fest steht: An Lehrerinnen und Lehrer herrscht nicht erst seit dem Beginn des Krieges Mangel. Damit extra Deutschstunden für Kinder wie Tatjana und Ivan realisiert werden konnten, musste deshalb der komplette Stundenplan einmal angepasst werden. Man versuche, was möglich sei, um allen Kindern bestmöglich gerecht zu werden, sagt Wolff. Aber sie sagt auch: „Wir können uns nicht dreiteilen.“
In der Klasse 3a geht derweil der Unterricht weiter. Vorne vor der Tafel sitzen die Kinder nun im Sitzkreis, für den Rollstuhl von Ivan haben die Übrigen ganz selbstverständlich Platz gemacht. Nacheinander dürfen sie eines der Frühlingswörter sagen, danach wiederholt es die ganze Klasse. Je nachdem wie es Lehrerin Leibl ansagt, wird es geflüstert, geschrien oder in ganz normaler Lautstärke gesagt. Beobachtet man Tatjana aus den Augenwinkeln, sieht man, wie auch sie versucht, die ihr noch unbekannten Worte nachzusprechen.
Fragt man sie später mithilfe einer Übersetzungs-App, wie es ihr an der neuen Schule gefällt und ob sie schon Freundinnen gefunden hat, antwortet sie zwar nur einsilbig mit „Gut“ und „Ja“, doch das kurze Strahlen in dem jungen Gesicht verrät, dass sie sich freut, hier zu sein – und dass sie immerhin schon auf Deutsch auf die Fragen antworten kann. Wer sie länger beobachtet, merkt außerdem, wie aufmerksam sie zuhört, wie sie alles regelrecht in sich aufzusaugen scheint. Schulleiterin Wolff ist sicher: Schule als ein Stück Normalität ist wichtig für Kinder wie Tatjana – auch wenn ihr noch die Worte fehlen, um das auszudrücken.
In der „Multikultiklasse“ von Magdalena Leibl sind Tatjana und Ivan längst nicht die Einzigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Insgesamt neun Nationen sind im Klassenzimmer vertreten. Dass Leibl vieles im Unterricht deshalb auch ins Englische übersetzen muss, ist für sie längst eine Selbstverständlichkeit. Rubina sagt dazu nur: „Wäre ja doof, wenn wir nur Deutsche in der Klasse wären.“
Tatjana und Ivan sind nicht die Einzigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist
Englisch spricht Leibl etwa, damit auch Sanmaya alles versteht. Die Achtjährige ist erst im Dezember von Indien nach Deutschland gekommen, zu Hause spricht sie unter anderem Englisch mit ihren Eltern, doch auch wenn man sie Deutsch sprechen hört, mag man kaum glauben, dass sie noch nicht einmal ein halbes Jahr die Grundschule in Petershausen besucht.
Weil sie sich ebenso wie Mate, 10, der vor vier Jahren aus Ungarn nach Deutschland gekommen ist, noch sehr genau daran erinnern kann, wie es war, ohne ein Wort Deutsch zu können, im Klassenzimmer zu sitzen, ist es für sie selbstverständlich, den beiden Neuen zu helfen. So erzählt es auch Anna, 9, die sich sogar ein wenig mit Tatjana und Ivan in deren Muttersprache unterhalten kann, weil sie von ihrem Papa ein bisschen Russisch gelernt hat. Auf Unterstützung von Kindern wie Anna, die Russisch oder gar Ukrainisch sprechen, muss vorerst auch Schulleiterin Wolff immer mal wieder setzen.
Denn Lehrerin Leibl kann – wie auch der Rest des Kollegiums – weder Ukrainisch noch Russisch. Sich mit ihren Schützlingen auszutauschen, gelingt trotzdem: Dank einer Übersetzungs-App auf ihrem Handy, in die sie und Tatjana abwechselnd sprechen – Tatjana auf Ukrainisch, Leibl auf Deutsch. So kann die Grundschullehrerin Tatjana und ihren Bruder fragen, ob sie dies und jenes verstanden haben oder erklären, dass Ivan die Süßigkeiten, die er dabei hat, weil er in den Ferien Geburtstag hatte, erst in der Pause verteilen darf. Das ist etwas ungewohnt und umständlich, aber es geht. Ob es dabei auch manchmal zu Missverständnisse kommt? Leibl lacht: „Ab und zu redet man schon aneinander vorbei.“
„Ich bin froh, dass sie jetzt da sind“, sagt Lorena mit einer Selbstverständlichkeit wie sie Kindern eigen ist. Es ist ihre Antwort auf die Frage, wie sie das findet, dass Tatjana und Ivan jetzt in ihre Klasse gehen. Die Neunjährige erzählt, ihre Eltern hätten ihr das mit dem Krieg im Heimatland der beiden erzählt. „Ich möchte, dass das aufhört.“ Sie wolle nicht, dass ihre neuen Freunde weiter so traurig sein müssten. „Wir wollen versuchen, sie fröhlich zu machen“, sagt sie. Es klingt fest entschlossen.
Das ist freilich leichter gesagt als getan. Denn es ist nicht zu übersehen, dass Tatjana, die sich rührend um ihren jüngeren Bruder kümmert, kaum lacht. Und dabei wird man das Gefühl nicht los, dass das nicht nur daran liegt, dass sie kaum etwas von dem versteht, worüber Lukas, Anna, Mate, Rubina und die anderen kichern. Jedenfalls überrascht es nicht, dass das Osterei, das sie eine Stunde später im Kunstunterricht fertig ausmalt der ukrainischen Flagge verdächtig ähnlich sieht: Es ist auf der einen Seite gelb, auf der anderen blau. Es bleibt ein schwacher Trost, dass das kleine Mädchen mit dem rosa Pulli und dem blonden Pferdeschwanz an diesem Montagmorgen im warmen Klassenzimmer der 3a sitzt – und nicht in Kirovograd, wo jederzeit Bomben vom Himmel fliegen könnten.
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