Draußen tobte der Cannstatter Wasen, das große schwäbische Volksfest, bei dem sich die Menschen seit einigen Jahren als Bayern verkleiden, wie sie sie von der „Wiesn“ zu kennen glauben. Viele der meist jungen Leute in Dirndl und Lederhose wirkten überrascht, als es gegen 17.30 Uhr Ortszeit regen Zulauf von vielen Menschen in weiß-roter Fankleidung gab.
Die waren dann doch einigermaßen gut gelaunt aus dem Stadion geströmt, nachdem zunächst die Ober- und dann die Unterränge in die Freiheit entlassen worden waren. Der Stuttgarter Chris Führich hatte kurz vor Schluss in dramaturgischer Vollendung die frühe Wolfsburger Führung ausgeglichen (89.) – und damit für einen kollektiven Stimmungsumschwung bei den 52.000 Zuschauern gesorgt.
Plötzlich gab es wieder Resthoffnung beim VfB-Anhang, die Saison als Erstligist beenden zu können – und das vielleicht sogar schon nach dem 34. Spieltag. Diese erhielt an diesem verrückten Nachmittag sogar noch ein wenig mehr Nahrung, denn zwei Minuten nach dem Stuttgarter Treffer zum 1:1 glich auch Bielefeld gegen die Hertha aus. Hatte es bis kurz vor Ende der regulären Spielzeit(en) noch so ausgesehen, als ob man die Saison bestenfalls auf dem Relegationsrang beenden könnte, lagen nun vier Punkte zwischen den Berlinern und dem VfB.
Sollte man die kommenden beiden Spiele gewinnen und Hertha nicht in mindestens einem ebenfalls siegen, könnte man Mitte Mai also tatsächlich in den Sommerurlaub gehen. Das ist das optimistische Szenario.
Eine Direktabnahme von Borna Sosa landet gleich fünf Meter neben dem Pfosten im Aus
Das pessimistische wäre nach wie vor der direkte Abstieg. Angesichts von nur zwei Punkten Vorsprung auf den Tabellensiebzehnten Bielefeld ist auch die zweite Liga eine erschreckend reale Option. Und lange Zeit sah am Samstag fast alles, was der VfB so zeigte, nach einem ziemlich direkten Weg ins Untergeschoss aus. Man habe sich „den Mut und die Entschlossenheit erarbeiten müssen“, gab Trainer Pellegrino Matarazzo nach dem Spiel zu und sprach von „mehreren Schwachstellen“.
Nach nicht einmal einer Viertelstunde Spielzeit lag der VfB nämlich hinten. John Anthony Brooks hatte das 0:1 geköpft, nachdem er unbegleitet zum Kopfball hatte hochsteigen können (13.). Auch danach sorgte der VfB wie in der Vorwoche beim 0:2 in Berlin für tieftraurige Gesichter bei seinem Anhang. Diesmal allerdings nicht, weil er so pomadig und unwillig gespielt hätte wie in der Hauptstadt. Im Gegenteil: Vorwerfen konnte man der Mannschaft nicht allzu viel – außer den vielen, vielen Fehlern im letzten Drittel des Spielfeldes.
Da misslang dem schwachen Saša Kalajdžić gleich vier Mal ein simples Weiterleiten auf gut positionierte Kollegen, da gab es falsche Einwürfe und Verzweiflungsschüsse und eine Direktabnahme von Borna Sosa zu bestaunen, die gleich fünf Meter neben dem Pfosten im Aus landete (42.). Den in dieser Saison klischeehaft inkonstanten Wolfsburgern genügte auch im zweiten Durchgang, in dem der VfB besser war, ein pragmatischer Defensiv-Vortrag mit wenigen Entlastungsversuchen.
Bis der eingewechselte Enzo Millot kurz vor Schluss zeigte, dass auch Stuttgarter Spieler gute Flanken schlagen können: Den Rest besorgte Führich, der mit dem 1:1 für ekstatische Szenen auf allen Tribünenseiten sorgte und schon nach vorne dachte: „Wir müssen jetzt weitermachen, dranbleiben, damit wir unser Ziel Klassenverbleib erreichen. Dieser eine Punkt kann dabei helfen.“
Vor der Cannstatter Kurve, wo die Ultras 90 Minuten lang fleißig ihre Arbeit gemacht hatten, versammelte sich nach dem Schlusspfiff die Mannschaft und applaudierte wiederum den Fans. Allen zusammen schien jedoch mit einem Mal einzufallen, dass dem schönen Szenario von den zwei Siegen am 33. und 34. Spieltag ein harter Aufprall mit der Realität bevorstehen könnte. Denn am letzten Spieltag empfängt der VfB den 1. FC Köln, der gerade ganz passabel Fußball spielt. Und am kommenden Wochenende geht es nach München. Der Evergreen „Zieht den Bayern die Lederhose aus“ klang schon mal überzeugender.
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