Es war ein verflixter Tag in Brüssel. Nichts kam so, wie es geplant war. Dieser Donnerstag war auch ein Wechselbad der Gefühle für Olaf Scholz. Am Morgen überwog die Enttäuschung, am Abend die Euphorie. Der Kanzler sprach schließlich von einem „historischen“ EU-Gipfel. Es war irgendwie noch mal gut gegangen.
Am Beginn des Tages stand ein Desaster. Im Laufe des Donnerstagmorgens wurde klar, dass die beiden Westbalkanstaaten Nordmazedonien und Albanien nach 17 und acht Jahren im Wartestand als ewige Beitrittskandidaten noch immer nicht auf die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen hoffen dürfen.
Bulgarien war aus innenpolitischen Gründen als einziges Land dagegen. Aber das reichte, denn es war eine einstimmige Entscheidung nötig. Dabei sollte dieses Treffen der 27 EU-Chefs mit den sechs Regierungschefs vom Westbalkan zum großen Durchbruch werden. Schon 2003 hatte Brüssel ihnen den Beitritt versprochen.
Die Regierung in Paris hatte zuvor tagelang versucht, einen Kompromiss zwischen Sofia und Skopje über den Status der bulgarischen Minderheit in Nordmazedonien zu finden.
Die Signale aus Frankreich als amtierender EU-Ratspräsidentschaft waren bis Mittwochabend positiv, aber am Ende fiel der ausgetüftelte Kompromiss wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Auch Scholz hatte sich vor dem Westbalkan-Gipfel für die Aufnahme von konkreten Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien starkgemacht.
„Aus meiner Sicht ist es von allergrößter Bedeutung, dass das jetzt ein glaubwürdiges Versprechen wird.“ Aber am Ende konnte auch er nichts ausrichten. „Ich kann der EU nur mein tiefstes Bedauern ausdrücken“, rief Albaniens Ministerpräsident Edi Rama den EU-Chefs hinterher. Seine Stimmung war sarkastisch: „Nicht einmal ein Krieg in Europa, der zur globalen Katastrophe werden könnte, war dazu in der Lage, ihre Einheit herzustellen.“ Die EU hätte eine „furchterregende Show der Impotenz“ gezeigt.
Aber Scholz & Co machten einfach weiter. Nach einem kurzen Mittagessen trafen die Regierungschefs bei schwül-warmen Temperaturen von 28 Grad gegen 15.15 Uhr erneut im Europagebäude an der Rue de la Loi ein.
EU-Ratspräsident Charles Michel hatte intern ein klare Dramaturgie verordnet: Nach der Empfehlung der EU-Kommission am vergangenen Freitag, der Ukraine und Moldawien – und verzögert auch Georgien – einen Status als EU-Beitrittskandidat zu verleihen, sollten am Donnerstagnachmittag auch die europäischen Regierungen schnell zustimmen.
Sie hatten das letzte Wort. „Wir wollen mit einer schnellen Entscheidung Einigkeit und Geschlossenheit in dieser Frage nach außen zeigen“, sagte ein Brüsseler Diplomat. Spätestens am frühen Abend sollte der Beschluss über die Bühne sein. Aber es kam – zum zweiten Mal an diesem Tag – anders.
Erst um 20.31 Uhr am Donnerstagabend twitterte Ratspräsident Michel: „Einigung. Der Europäische Rat hat sich gerade für den Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldawien entschieden.“ Was war geschehen? Warum diese Verzögerung?
Hinter verschlossenen Türen entzündeten sich im Laufe des Nachmittags heftige Debatten. Vor allem Österreich und Slowenien versuchten – unterstützt von Tschechien und Ungarn – die übrigen EU-Länder davon zu überzeugen, dass auch der Westbalkan-Staat Bosnien-Herzegowina, ein Land dem bereits 2003 der Beitritt versprochen worden war, Beitrittskandidat werden müsse.
„Es braucht gleiche Regeln für alle. Wir dürfen beim Beitrittsprozess nicht mit zweierlei Maß messen“, sagte Österreichs konservativer Kanzler Karl Nehammer. „Das ist ein Gebot der Fairness und eine Frage der Glaubwürdigkeit“, fügte Nehammer hinzu. „Auf Bosnien-Herzegowina sind wir aber gar nicht vorbereitet“, konterte eine Regierungschefin aus dem Norden. „Das geht heute nicht“.
Die Debatte wurde hitziger. Es ging dabei auch um die wirre Logik dieses Beitrittsprozesses: Während Bosnien-Herzegowina umfangreiche Bedingungen erfüllen muss, bevor das Land Kandidat werden kann, müssen die Ukraine und Moldau die Auflagen erst nach der Ernennung zu Beitrittskandidaten erfüllen.
Am Ende dann ein fauler Kompromiss der Brüsseler Art: Beim nächsten EU-Gipfel im Oktober soll über ein möglichst konkretes Datum für Bosnien-Herzegowina als Beitrittskandidat beraten werden, falls Reformen, insbesondere im Wahlrecht, durchgeführt werden.
Für Experten ist aber klar: In Bosnien wird sich in den kommenden Monaten nicht viel bewegen, denn Anfang Oktober sind dort Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die Stimmung ist mittlerweile so aufgeheizt in dem Staat, dass die fehlende Beitrittsperspektive das Land auseinanderbrechen lassen könnte. Wenn das passiert, dann würde sich die Entscheidung von diesem 23. Juni bitter rächen.
„Der heutige Tag wird der Beginn einer langen Reise“
Aber daran wollte an diesem Abend fast niemand denken. Die EU war in Feierlaune. Alle Mitgliedstaaten hatten Punkt 11 der Abschlusserklärung dieses Gipfels schließlich zugestimmt: „Der Europäische Rat hat entschieden, der Ukraine und der Republik Moldau den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren.“ Es gab Champagner. „Heute ist ein guter Tag für Europa“, deklamierte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.
Michel sprach von einem „historischen Moment“, EU-Chefdiplomat Josep Borrell erklärte: „Der heutige Tag wird der Beginn einer langen Reise, die wir zusammen unternehmen werden.“ Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj? Er wurde unmittelbar nach der Entscheidung per Video zugeschaltet: „Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU“, jubelte er.
Selenskyj dürfte sich an diesem Abend auch an die wundersame Kehrtwende von Deutschland und Frankreich und an seine ersten Gespräche mit Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im März erinnert haben. Scholz und Macron waren lange Zeit äußerst kritisch gegenüber einem Beitrittskandidaten Ukraine.
„Deutschland und Frankreich waren mehr als skeptisch“, sagte Nehammer dazu. Aber dann gerieten der Präsident und der Kanzler in ihren eigenen Ländern unter Druck. Man warf ihnen vor, zu wenig für Kiew zu tun.
Die Zugfahrt von Scholz, Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi vor gut einer Woche nach Kiew änderte dann alles: Die Skeptiker Scholz und Macron verwandelten sich plötzlich in glühende Befürworter eines Kandidatenstatus.
Sie hatten die Zusage in ihrem Reisegepäck mitgebracht, es war ein vorzeigbares Gastgeschenk für Selenskyj. Das machte den Weg frei. Danach änderten auch andere Länder, wie die Niederlande und Dänemark, ihre kritische Haltung.
Am Ende fiel der Sinneswandel Scholz und Macron leicht: Sie wissen, dass der Status der Ukraine und Moldaus als Beitrittskandidat für die EU auf lange Zeit keine Konsequenzen haben wird. Daraus entstehen keine Verpflichtungen.
Es kostet die Europäer nichts. Und ein Beitritt wird möglicherweise „Jahrzehnte“ dauern, wie Macron sagte. Aber klar ist auch: Für die Ukrainer bedeutet diese Entscheidung für eine europäische Perspektive weitaus mehr als sie auf dem Papier wert ist.
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